Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
sie wenig für dieses glatte, fahrbahnartig geschwungene Bauwerk übrig hatte. Vielleicht aus einer ästhetischen Aversion heraus, vielleicht, da sie besser als jede andere Person über die Tücken der Konstruktion Bescheid wußte.
»Ja«, sagte Lukastik.
»Was ja?« fragte Beduzzi.
»Ich werde hier übernachten.«
»Wie Sie wollen.« Es klang nicht ausgesprochen unfreundlich. Eher ein wenig gequält. Oder auch mitleidig.
Einen Moment überlegte Lukastik, dann fragte er Selma Beduzzi, ob sie einen Egon Sternbach kenne.
»Natürlich. Das ist unser Friseur. Sagen Sie nicht, daß Sie wegen dem hier sind.«
»Warum denn nicht?«
»Ja. Warum eigentlich nicht?« korrigierte sich die Frau. »Er ist ein wahrer Meister. Ein Genie. Es gibt Leute, die aus Krems oder Melk hierherkommen, um sich von ihm die Haare machen zu lassen.«
»Ein ungewöhnlicher Ort für einen Friseur«, meinte Lukastik.
»Ach wo! Im Unterschied zu mir ist er ganz hingerissen von unserem Gebäude. Er liebt es richtiggehend. Er nennt es sein Schloß . Und selbst wenn man ihm ein Wiener Palais anbieten würde, tät er von hier nicht weggehen. Eine treue Seele. Aber trotzdem ein wahrer Künstler.«
Dabei griff sich Selma Beduzzi ins Haar, wie um ihre Aussage zu unterstreichen. Woraus sich ein zauberisches Geräusch ergab, gleich dem Abbrennen einer Wunderkerze. Zumindest erklang dieser weihnachtliche Funkenschlag in Lukastiks Einbildung. Immerhin hatte er einen harten Tag hinter sich und spürte jetzt, daß etwas wie ein leichter Rausch sich seiner bemächtigte. Eine wenn auch bloß minimale Verschiebung und Verzerrung der Bilder und Töne, so doch ein gewisser Einbruch des Realen, eine feine Trübung der Sinne.
»Ich habe noch eine Frage«, sagte Lukastik. »Eine Frage, die sich vielleicht nicht gehört, die ich aber dennoch stellen muß. Wissen Sie, ob Herr Sternbach unter einem Gehörschaden leidet?«
»Was soll denn das bedeuten?«
»Geben Sie einfach eine Antwort.«
»Wollen Sie nicht lieber wissen, wieviel Kilo ich auf die Waage bringe?« meinte Selma Beduzzi mit einem Lächeln, das wie die Schneide eines Teppichmessers zwischen ihren Lippen aufblitzte.
»Nein«, sagte Lukastik und wartete.
»Herr Sternbach besitzt – soweit ich weiß – ein ganz normales Gehör. Es ist zwar nicht so, daß wenn man ihn ruft, er wie ein braves Hündchen angetrabt kommt. Aber das ist von einem Friseur auch nicht zu erwarten. Oder?«
»Wo finde ich ihn?«
»Er bewohnt eines der Gästezimmer. Aber ich denke, den Rest soll er Ihnen selbst erzählen.«
Entgegen seinem eigentlichen Impuls, sich endlich in den überfälligen Schlaf zurückzuziehen, verlangte Richard Lukastik danach, Sternbach zu sehen. Jetzt und hier.
»Wie denn?« staunte Frau Beduzzi. »Damit er Ihnen die Haare schneidet? Was denken Sie sich eigentlich?«
Dabei warf sie einen verächtlichen Blick auf Lukastiks braunes, von einem Schuß Rot aufgeheiztes Haar, das im Anschluß an eine hohe, feuchte Stirne zwar präzise nach hinten gekämmt war, aber als ein bloß schütterer Belag die helle Kopfhaut fadenscheinig abdeckte. Unterhalb von dem wenigen Haar und diesem Zuviel an Stirn eröffnete sich Lukastiks strenges, gleichzeitig volles und kantiges Gesicht, das eine schwarzweiße Färbung besaß. Ein Vierziger-Jahre-Gesicht. Ein Gründgens Gesicht.
»Liebe Frau Beduzzi«, sagte er und beugte sich über die Theke, wobei er mit einem gestreckten Finger rechthaberisch auf die Platte klopfte, »Sie mögen das gutheißen oder auch nicht, aber ich vertrete hier den Staat und nicht meine eigene Haarpracht. Was denken Sie, warum ich mitten in der Nacht ans Ende der zivilisierten Welt reise? Um mir künstliche Fische anzusehen? Um mir eine neue Haarfarbe verpassen zu lassen?«
»Das würde nichts bringen«, meinte Frau Beduzzi kühl.
»Richtig. Das sehe ich genauso. Seien Sie jetzt also so freundlich und rufen mir Herrn Sternbach.«
»Wenn es sein muß«, sagte Beduzzi und zündete sich eine weitere Zigarette an, wie um den hübschen Glanz in ihren Augen nicht zu gefährden. Sie wählte eine Nummer in ihr mobiles Telephon und ging gleichzeitig in einen Nebenraum. Aus der Ferne vernahm Lukastik zwar die Stimme, konnte jedoch nichts verstehen. Im Grunde war es unzulässig, daß Selma Beduzzi sich solcherart in die Lage versetzte, Sternbach zu warnen. Aber was hätte Lukastik tun sollen? Der schwergewichtigen und reizvollen Person ins Hinterzimmer folgen und sich den Vorwurf irgendeiner
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