Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
irgendeiner schäbigen Absteige festhalten konnte. Vor allem Richard kämpfte mit dem Bedürfnis, seiner Schwester außerhalb dieser Schäbigkeit und dieser Bettdecke zu begegnen, als Liebhaber und Lebenspartner zu begegnen.
»Wie stellst du dir das vor?« hatte sie gefragt. »Willst du mich heiraten? Willst du ein Kind von mir?«
Er hätte gerne »Ja« gesagt, sagte aber gar nichts. Man beschloß, aufzuhören . Wie man beschließt, das Wetter abzuschaffen, um nicht in den Regen zu kommen.
Alexa tat das Vernünftigste, indem sie sich einen anderen Mann suchte. Auf einem der Empfänge ihres Vaters lernte sie einen russischen Fabrikanten kennen, der in Hamburg lebte. Beides war ihr zutiefst suspekt, das Russische wie das Hamburgische, aber ohnehin wollte sie sich bestrafen, bestrafen für den Verrat an ihrer Bruderliebe. Selbstbestrafung ist eine gute Sache, man fühlt sich hernach gleich sehr viel besser. Also heiratete sie den Russen und ging nach Deutschland. Nach zwei Jahren fand sie, daß auch Selbstbestrafung ihre Grenzen hat, und ließ sich scheiden. Blieb aber in Hamburg, weil man sich natürlich auch an Strafen gewöhnen kann, manchmal so sehr, daß man aufpassen muß, nicht als ein kleiner Masochist zu enden.
Alexa paßte auf, wurde in jeder Hinsicht selbständig, trat ins Geschäftsleben ein und begann mit Tee aus China zu handeln. Das war damals relativ neu: grüner Tee. Die Leute glaubten noch, Tee würde edlere oder schönere Menschen aus ihnen machen, erst recht grüner Tee. Jedenfalls verstand sich Alexa mit den Chinesen sehr viel besser als mit den Russen und hatte bald genügend Erfolg, um auch in andere Branchen zu investieren. Zuletzt gründete sie ein Maklerbüro, wobei die Häuser, die sie verschacherte, lange nicht an die Qualität jener heranreichten, die sie einst unter der Bettdecke eines billigen Hotelzimmers errichtet hatte. Sie wurde nicht richtig reich, aber doch vermögend, und heiratete ein zweites Mal, diesmal einen Künstler, dessen wahrscheinlich einzige Kunst darin bestand, sich eine fürsorglich begradigte Spur weißen Pulvers in sein Nasenloch zu ziehen. Aber im Grunde war er ein lieber Kerl, der halt anderswo lebte. Nur nicht in und mit seinem Körper, welcher leider in eine Straßenbahn geriet. Nach drei Wochen im Koma starb er. Alexa beschloß, das Heiraten bleibenzulassen. Genaugenommen, beschloß sie, die Männer bleibenzulassen. Was ihr ausgesprochen leichtfiel, vielleicht auch, weil sie nie ernsthaft daran gedacht hatte, Mutter zu werden. Es widerstrebte ihr, ein Kind in die Welt zu setzen und dann mitzubekommen, was diese Welt aus ihrem Kind machte. Sie sah ja den Nachwuchs ihrer Freunde und Geschäftspartner, und was sie sah, machte sie traurig wie nichts sonst. Das wollte sie sich gerne ersparen.
Nach zwanzig Jahren Hamburg gab sie den grünen Tee und das Maklergeschäft auf und kehrte nach Wien zurück, ohne sagen zu können, warum eigentlich. Am ehesten war es wohl so, daß sie zum Sterben hierher zurückkam, obgleich sie noch keine fünfzig war. Andererseits muß natürlich gesagt werden, daß die Leute heutzutage viel zu alt werden, nicht nur jene zweihundertjährigen Schildkrötenhominiden. Der Mensch an sich eignet sich kaum, länger als vier, fünf Jahrzehnte auf der Erde zu wandeln. Ein höheres Alter widerspricht seinem Wesen und erst recht seinem Körper. Das moderne Leben verpflichtet den Menschen zu einer völlig unnötigen und zumeist auch unerfreulichen Draufgabe, ganz in der Art dieser Nachspielzeiten im Fußball, wenn alle schlapp herumhängen, niemand mehr einen ernsthaften Angriff startet und man bloß noch auf das finale Elfmeterschießen wartet, also auf ein Glücksspiel, auf einen würfelnden Gott. Was dem heutigen Menschen fehlt, ist die gefährliche Mammutjagd, sind Säbelzahntiger und todbringende Eiszeiten. Natürlich hat die allgemeine Hygiene auch ihre Vorteile, aber sie verursacht uns die Qual eines Alters, für das wir nicht gebaut wurden. Schildkröten schon, und das sieht man ihnen auch an.
Alexa war in die elterliche Wohnung zurückgekehrt, obwohl sie das nun wirklich nicht nötig hatte. Aber sie rührte das Geld, das sie besaß und welches in der Art einer Ameisenstraße für sie weiterarbeitete, nicht an. Was auch immer sie damit vorhatte. Statt dessen wohnte sie in dem Zimmer ihrer Mädchenjahre, versorgte ihren auf eine freundliche Weise komisch gewordenen und in der mysteriösen Kunst des Suppenkochens aktiven Vater, stritt sich
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