Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
merkwürdige, ein wenig lachhafte Sehenswürdigkeit, ohne die man sich jedoch Wien nicht vorstellen konnte. Es gefiel Lukastik, daß die Banalität eines sich drehenden Rades, welches nicht viel anders aussah als eines dieser Laufräder in den Käfigen von Meerschweinchen und Mäusen, daß also ein solches allein von seiner Größe lebendes Objekt sinnloser Bewegung den Charakter der Stadt mitbestimmte. Er mochte dieses Rad, wie es da am Himmel klebte und an all die Postkarten erinnerte, auf denen es abgebildet war. In der Regel kennt man ja zuerst die Abbildung von etwas und ist in der Folge ganz glücklich, wenn die Wirklichkeit dem Vorbild so halbwegs entspricht.
Lukastik öffnete das Fenster. Der Lärm hin- und hergeschobener Güterwaggons drang in sein Zimmer. Dazu der Geruch städtischen Sommers, ein Geruch von alter Frau, ein Geruch, wie er unter dicken Bettdecken hervorströmt. Ein strenger Geruch, horribel, abgründig, wie vergiftetes 4711, aber irgendwie auch anregend.
Lukastik griff in seine Tasche, holte das Buch Alte Meister heraus und legte sich damit aufs Bett. Er zündete sich eine Zigarette an, tat einen sehr tiefen Zug, wie um sich den hervorragenden Zustand seiner Lunge zu beweisen, fügte die Zigarette in die Rille des Aschenbechers und begann in dem Band zu blättern.
Da nun diese als Komödie titulierte Erzählung von Wiederholungen lebte – und zwar ganz wunderbaren Wiederholungen, als würde ein Ei ein anderes legen, ohne ein Huhn bemühen zu müssen –, darum also hatte Lukastik rasch herausgefunden, daß die Hauptfigur der Geschichte, der privatphilosophische Musikphilosoph Reger sich jeden zweiten Vormittag um elf Uhr im Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums einfindet, um sich auf der dortigen Sitzbank niederzulassen und Tintorettos Weißbärtigen Mann zu betrachten, und das seit über sechsunddreißig Jahren.
Lukastik, der das Buch bei seinem Erscheinen vor einundzwanzig Jahren gelesen hatte, blieb jetzt bei der einen oder anderen Stelle hängen, fiel praktisch zurück in seine alte Leidenschaft für diesen Autor, dem wohl die einzigen spannenden und mitreißenden Momente der Achtzigerjahre in Österreich zu verdanken sind. Alle Menschen in diesem Land hatten sich in irgendeiner Form – in Kenntnis oder Unkenntnis des Werks, egal – auf diesen Autor gestürzt, ihn verehrt oder gehaßt. Aber jeder war ihm dankbar gewesen für die Möglichkeit, ein Gefühl der Erregung entwickeln zu können, eine deutliche Beschleunigung des Herzschlags zu verspüren. Die sogenannte Nestbeschmutzung des Thomas Bernhard hatte ein ganzes Land aus seiner Apathie geholt. Thomas Bernhard war der Wecker der Österreicher gewesen. Er hatte geklingelt und gerasselt und gescheppert, bis auch jeder in diesem Land aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht und aus der landesweiten Tiefschlafkammer herausgekrochen war. Erst diese Nestbeschmutzung machte den Leuten überhaupt klar, daß es so etwas wie ein Nest gab. Ganz klar, exakt in diesem Nest hatten sie ja gelegen und traumlos ihre Zeit verschnarcht, aber man kann eben nicht gleichzeitig in einem Nest schlafen und sich dieses Nestes bewußt sein. Man muß schon aufwachen, um das Nest wahrzunehmen. Und das taten dann also die Leute, nicht wenige scheinbar fassungslos angesichts der Schönheit ihrer Brutstatt. Andere wiederum schockiert ob all der Niedertracht darin. Jeder aber begeistert über das eigene Wachsein. Wie im Märchen, wenn ein Fluch genommen wird und alle wieder ihr Leben fortführen dürfen.
Thomas Bernhard war der Ritter und Retter der Österreicher in Form einer unaufhörlich schellenden Weckuhr gewesen. Und das einzige Problem bestand wahrscheinlich darin, daß Thomas Bernhard vergaß, daß ein Wecker – wenn denn bereits alle wach sind – auch wieder abgestellt werden muß. Statt dessen läutete der Apparat bis zur endgültigen Erschöpfung, was am Ende immer ein wenig traurig klingt: ein Röcheln, als sterbe die ganze Maschine, ja, als sterbe die Zeit.
Ein Jahr, bevor diese ominösen Achtzigerjahre begonnen hatten, war es geschehen, daß Richard Lukastik mit seiner Schwester ein Verhältnis eingegangen war. Geliebt hatten sie sich schon vorher, aber in diesem Jahr 1979 beschlossen die beiden, ihre Liebe auch auszuleben. Sie mieteten heimlich ein Zimmer, wo sie sich mehrmals in der Woche trafen, um miteinander zu schlafen. Wobei der Umstand, daß Alexa zwei Jahre älter als ihr Bruder war, die Sache sehr vereinfachte. Sie war mit ihren
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