Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
Richtige ist.«
»Das könnte von unserer Mutter sein«, sagte Lukastik. Fügte aber gleich an, nicht über Thomas Bernhard streiten zu wollen.
»Worüber dann?« erkundigte sich die Schwester.
»Ich will gar nicht streiten. Ich will dir einfach sagen…daß ich mich manchmal…daß ich mich nach unserer Zeit zurücksehne.«
Alexas Steinaugen zuckten. Man sah, wie unwohl sie sich fühlte. Man sah, daß sie gerne aufgestanden wäre. Sie blieb aber sitzen und versuchte es mit Sachlichkeit: »Du sehnst dich eher nach deiner Jugend. Damals, als du Sport treiben konntest, ohne nachher zum Hausarzt zu müssen.«
»Blödsinn. Ich bin glücklich auch ohne Sport. Und das weißt du.«
Ja, das wußte sie. Sie sagte: »Ich würde es vorziehen zu gehen.«
»Schon klar«, sagte Lukastik. »Mir wäre aber lieber, wenn du bleibst.«
»Also gut. Dann sag mir, was du überhaupt willst? Ein Therapiegespräch führen?«
Lukastik antwortete, als spreche er durch einen von Gustav Klimt gestalteten Mundschutz hindurch: »Um ehrlich zu sein, will ich dich küssen.«
So mutig es war, das zu sagen, hatte seine Stimme schwächlich geklungen, klein, fern, versunken, impressionistisch eben. Passend dazu lachte Alexa laut auf.
»So lustig ist das nicht«, meinte Lukastik.
»Nein, das ist es wirklich nicht. Wie hast du dir das vorgestellt? Blätterst in einem Büchlein von Thomas Bernhard, ach ja, und da fällt dir ein, daß du eigentlich mit deiner alten Schwester ins Bett steigen könntest. Wo du doch schon mal im Bett liegst.«
»Es ist nicht nötig, daß du so redest.« Lukastik hatte sich aufgesetzt, die Beine am Teppichboden, die Hände auf den Knien, als hindere er kleine Bällchen am Davonrollen. Er betrachtete seine Schwester. Sein Blick war stärker als seine Stimme.
Alexa schwächelte. »Hör auf, mich so anzusehen.«
»Es ist Zeit«, meinte Lukastik, »dir endlich wieder einmal richtig in die Augen zu schauen. Es gibt keine schöneren Augen.«
»Papperlapapp!«
»Keine schöneren«, wiederholte Lukastik. Er hatte ihre Hand gefaßt. Ihre Hand war unverändert, fühlte sich an wie vor siebenundzwanzig Jahren. Nicht härter, nicht weicher. Na, vielleicht hatte sich ja auch bloß die Liebe in der alten Gestalt und Konsistenz erhalten. Noch erstaunlicher war freilich, daß Alexa ihre Hand nicht zurückzog. Sie wirkte jetzt erschöpft, atmete schwer, sah kurz nach draußen, in das milchige Stadtlicht, den sommerlichen Dunst, dann wieder zu Richard und sagte, und zwar mit einer völlig veränderten, milden Stimme: »Wir sollten das nicht tun.«
»Natürlich nicht«, antwortete Lukastik. »Andererseits kam mir heute der Gedanke, ich könnte morgen tot sein. Tot sein, ohne dich noch einmal geliebt zu haben.«
»Aber du kannst doch nicht im Ernst glauben, es würde so sein, wie es damals war.«
»Das möchte ich gerne feststellen. Nachher weiß es ich es dann wenigstens mit Sicherheit.«
»Und was ist, wenn es uns gelingt?« fragte Alexa. »Wenn es gut wird. Was dann?«
»Wir sind keine Kinder mehr«, sagte Lukastik.
»Wir waren auch damals keine Kinder. Und genau so wie damals müssen wir auch jetzt an unsere Eltern denken, oder?«
»Die beiden stehen nicht mehr im Leben«, entgegnete Lukastik. »Sie stehen nur noch in ihrer alten Wohnung.«
»Und wir stehen neben ihnen«, erinnerte Alexa.
»Ja, das ist schon merkwürdig«, gab Lukastik zu und nahm auch Alexas zweite Hand. Im Grunde war keine Frage geklärt, nichts gelöst, aber diese zwei Hände fühlten sich besser als alles an, was Lukastik kannte. Diese Hände pochten unter seinem sanften Griff. Es war…ja, es war eindeutig das, was er so lange vermißt hatte.
Wiederfinden ist besser als Neuentdecken. Zumindest, wenn man fünfzig ist.
Lukastik zog Alexa zu sich aufs Bett. Sie sträubte sich ein wenig, wie Katzen das tun, bevor sie dann aber gleich zu schnurren anfangen. Nun, Alexa schnurrte zwar nicht, aber als Lukastik seine Lippen auf ihrem Mund absetzte, da erwiderte sie den Druck. Es ergab sich eine Folge kettenartig verschweißter Küsse, einer aus dem anderen schlüpfend, bevor die beiden Zungen sich trafen. Jeder Körperteil für sich begegnete hier einem alten Bekannten. Man kann ruhig sagen, daß eine Familienzusammenführung vonstatten ging, lauter verlorene Söhne und verlorene Töchter, die heimkehrten, die gerne heimkehrten und ebenso gerne willkommen geheißen wurden.
Nach diesem ersten kleinen Entwurf für ein neues Haus wechselte Alexa auf die
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