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Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Titel: Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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alarmierte. Ein Bleistift war auf der langen hölzernen Tischtafel in Bewegung geraten und rollte nun in der bekannten Weise ungehindert auf die Kante der einen Breitseite zu. Dies geschah alle paar Tage, daß der Stift, der neben dem Notizblock lag, durch eine kleine Erschütterung aus seiner Parkposition gerissen wurde und dank einer geringfügigen Schräge des Bodens, auf dem der Tisch stand, in Richtung Norden kullerte. Olander schreckte dann ein jedes Mal aus seinem Sitz hoch, fuhr einen Arm aus und versuchte das davoneilende Objekt zu fassen. Was ihm aber niemals gelang. Ständig brach der Stift über die Kante, fiel herunter und landete auf dem Parkett. Ein Umstand, den Olander in diesen knappen Momenten stets als schmerzlich empfand. Er überlegte nämlich – während er den Stift noch davonrollen sah –, es wäre ein schlechtes Omen, würde der Stift fallen und den Boden erreichen. Also genau das, was sich in der Folge mit schöner Konsequenz zu ereignen pflegte.
    Natürlich vergaß Olander rasch wieder dieses törichte Gefühl bezüglich eines mittels Bleistiftsturzes aufkeimenden Unglücks. Und tatsächlich war ein solches Unglück oder auch nur Pech ja nie festzustellen gewesen. Gleichwohl sprang Olander ein jedes Mal auf und versuchte den davoneilenden Gegenstand noch zu erwischen. Auch jetzt.
    Doch diesmal holte er ihn ein. Nicht mehr auf dem Tisch, das nicht, aber indem Olander ausnahmsweise von der Seite und von unten her seinen Arm vorschnellte, konnte er den Stift im Fallen fassen, bevor dieser aufschlug.
    Er fühlte sich erleichtert. Immerhin stieg man heute in ein Flugzeug. Da konnte es nicht schaden, den Bleistift endlich einmal aufgefangen zu haben.
    Und wie es schaden konnte!
    Das wurde ihm später klar, Wochen nachdem das Unglück geschehen, die Katastrophe eingetreten war und er sich noch immer in Mailand befand. Während er verzweifelt an irgendeiner Straßenecke stand, auf ein Wunder hoffend, eine Gnade, fiel ihm plötzlich der Bleistift ein und daß er ihn aufgefangen hatte. Er sah es deutlich vor sich. Und konnte nicht anders, als sich vorzustellen, genau auf diese Weise das Unglück begründet und eingeläutet zu haben. Denn der bis zu diesem Moment ständig auf dem Boden gelandete Bleistift hatte ja in keinem Fall zu einem merklichen Schicksalsschlag oder einer Pechsträhne geführt, der aufgefangene aber sehr wohl.
    Weder war Vinzent Olander sonderlich religiös noch abergläubisch, und doch meinte er, daß sich alles im Leben ankündigte, so wie sich das Wetter ankündigte. Daß man somit durchaus die Chance hatte, sich rechtzeitig einen Regenschutz überzuziehen. Und vor allem darauf achten mußte, die Zeichen richtig zu deuten, die Warnschilder richtig zu lesen. Also nicht etwa ein orakelartiges Phänomen zum Anlaß nahm, einer geplanten Bahnreise auszuweichen, um dann mit dem alternativen Überlandbus in eine Schlucht zu stürzen.
    Er hatte das Zeichen falsch interpretiert. Er war der überaus simplen, ja kindlichen Logik gefolgt, daß ein aufgefangener Bleistift etwas Gutes bedeuten mußte. Wieso denn? Wäre es denn ein gutes Zeichen gewesen, einen vom Dach fallenden Ziegel, einen herabstürzenden Gesteinsbrocken, einen von Vandalen aus dem fahrenden Zug geworfenen Fahrscheinautomaten oder einen vom Baum brechenden Ast aufgefangen zu haben? Wohl kaum. Nein, Vinzent Olander hätte entweder diesen Bleistift nicht erwischen dürfen oder den Umstand, ihn doch erwischt zu haben, zum Anlaß nehmen müssen, die Reise nach Mailand zu verschieben, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen.
    Tat er aber nicht. Die Zukunft trat genau in der geplanten Form ein. Vinzent und Clara stiegen in ihr Flugzeug und erreichten sicher Mailand. Vor dem Flughafengebäude hob Olander seine Hand und winkte das nächste Taxi herbei. Der Fahrer war ein kleiner, höflicher Mann mit dem Gesicht einer Spitzmaus. Passend dazu, schlüpfte er ausgesprochen flink aus seinem Wagen und nahm Olander die beiden Reisetaschen aus der Hand, welche er ebenso rasch wie sorgsam im Kofferraum verstaute. Danach bemühte er sich persönlich, Clara am Rücksitz anzugurten. Solches Engagement war Olander neu. Er hielt Taxifahrer für Gottesanbeterinnen, gefährliche Tiere also. Aber wie gesagt, dieser hier war eine Spitzmaus. Kein Kuscheltier, aber freundlich. Leider nicht besonders langlebig.
    Man fuhr auf einer Straße, die wie der Flughafen hieß, Richtung Stadt. Olander hatte das Teatro alla Scala als Zielort angegeben.

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