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Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Titel: Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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glauben Menschen nämlich, daß die Zeugung und Aufzucht eines Kindes sie befähigt, die Dinge klarer zu sehen. Das ist Blödsinn. Und Olander wußte das. Er war durch Clara nicht klüger geworden, aber zufriedener.
    Zufriedenheit und Glück übertrugen sich nur leider nicht auf Olanders Beziehung zu seiner Frau. Die beiden lebten sich auseinander, bevor sie noch so richtig zusammengewachsen waren. Sie hatten sich beide geirrt. Sie hatten etwas gesehen, was gar nicht da war. Ihre Liebe hatte auf dem Mißverständnis basiert, daß sie einander bräuchten. Aber sie brauchten sich nicht, nicht im geringsten. Ihre Liebe zerplatzte nicht, sondern verschwand wie der auf kaltes Glas gehauchte Atem.
    Freilich, da war Clara. Und Yasmina liebte ihre Tochter mit derselben unbedingten Aufmerksamkeit und Zuwendung wie Vinzent.
    So kam es, daß das Kind an den beiden Orten seiner Eltern lebte. Es war aber in erster Linie Olander, der Clara auf den Reisen zwischen Mailand und Wien begleitete, was ihm vorkam, als bewege er sich ständig zwischen Betrug und Selbstbetrug, wobei Mailand für ersteres und Wien für zweiteres stand, auch wenn das ein Klischee ist. Aber meistens kommen Klischees in die Welt, um auf Teufel komm raus von jedermann bestätigt zu werden.
    Clara war in diesen frühen Jahren ihres Lebens in die ostösterreichische wie in die norditalienische Kultur eingebunden worden, vor allem aber in das Faktum der Unterschiedlichkeit. Kinder erleben weniger die Dinge an sich, sondern vielmehr, inwieweit ein Ding sich von einem anderen unterscheidet. Was Kindern an einem bestimmten Tier auffällt, ist vor allem das, was ein anderes Tier nicht besitzt. Etwa die Stacheln eines Dinosauriers, die einem anderen Saurier fehlen. Solcherart lernen sie, einen Raubsaurier (hat Stacheln nicht nötig) und einen Pflanzenfresser (hat Stacheln nötig) auseinanderzuhalten.
    Clara beherrschte die Sprache ihrer Mutter wie die ihres Vaters. Und wenn man sie gefragt hätte, wo sie am liebsten sei, hätte sie geantwortet: im Flugzeug. Also im Dazwischen. Betreut von einem Personal, welches Clara sehr viel lieber war als die Erzieherinnen der beiden Kindergärten, in denen sie sich abwechselnd befand. Und auch Olander dachte manchmal, daß die Herren und Damen Flugbegleiter eine Freundlichkeit besaßen, die man auf sämtliche Bereiche des Lebens hätte übertragen sollen. Auch wenn diese Freundlichkeit aufgesetzt und trainiert erscheinen mochte. Na und? Wie sah denn die Alternative aus? Krieg unter Nachbarn. Bundesbahnen. Autoverkehr. Diskussionen im Fernsehen zwischen sogenannten Freunden. Sex. – Wieviel besser war da das Lächeln einer Stewardeß und wieviel besser das eigene Lächeln, mit dem man sich für den servierten Kaffee bedankte.
    Und wieviel besser, als sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Genau das tat Olander im vierten Jahr dieser sowieso längst nicht mehr geführten Ehe, ohne daß es dafür einen auslösenden Grund gegeben hätte. Man vollzog diesen letzten Strich mit der gleichen Emotionslosigkeit, mit der ein Brötchen auseinandergeschnitten wird. Aus einem Brötchen werden zwei. Clara freilich war kein Brötchen, man konnte sie nicht auseinanderschneiden. Aber man konnte sie weiterhin zwischen Mailand und Wien hin- und hertransportieren.
    Das waren die Umstände, die dazu führten, daß Vinzent Olander an einem warmen Frühsommertag in gewohnter Weise am Mailänder Flughafen landete. Neben sich Clara, die nach vier Wochen in Wien wieder zu ihrer Mutter zurückkehren sollte.
    »Ein schöner Flug, nicht wahr?« sagte Olander zu seiner nun sechsjährigen Tochter.
    Clara nickte und lächelte in der ihr eigenen Art, als binde sie um die Dinge eine dünne Schnur. Ja, ihr Lächeln war ein feiner, silbriger Faden, der den angelächelten Objekten und Personen Halt verlieh. Das war wohl der Grund, daß auch fremde Menschen Clara augenblicklich mochten. Nicht nur, weil sie mit ihren blonden Locken und dem zarten Gesicht niedlich aussah. Es war dieses Lächeln, das sich um einen jeden band, ohne ihn zuzuschnüren.
    Vater und Tochter stiegen aus der Maschine, holten ihr Gepäck und traten aus dem Flughafengebäude. Es war Nachmittag. Der Himmel war blau wie drei übereinandergelegte Startfenster. Ein Taxi wartete.
    Die Frage bei einem Unglück ist für uns meistens die, wann dieses Unglück eigentlich begonnen hat. Ob dieses Unglück eine Vorgeschichte besitzt oder nicht. Also, ob wir es rechtzeitig erkennen und verhindern hätten

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