Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
sich jetzt zu Clara beugte und seinen Arm zur Wagentüre hin ausstreckte. Wenigstens war der Knopf der Kindersicherung nicht heruntergedrückt. Doch so sehr Olander sich auch anstrengte, er erreichte den Türgriff bloß mit seinen Fingerspitzen. Er hätte sich von seinen eingeklemmten Beinen losreißen mögen, diese Beine gerne geopfert, aber so funktionierte das halt nicht. Er war einfach nicht in der Lage, sich noch weiter zu strecken, als es schon geschehen war.
Er flehte Clara an, sie solle nach dem Griff fassen. Aber das Kind war wie versteinert.
Plötzlich ging die Türe auf. Jemand hatte sie von außen geöffnet.
»Raus, Clara, schnell!« schrie Olander.
Sein Blick ging hoch. Er erblickte eine Frau, die ihre Hände in Richtung des Kindes ausbreitete. Es war eine junge Frau. Gott, wie sympathisch sie aussieht, dachte Olander, der die Gesichtszüge jetzt wie auf einem Foto wahrnahm. Auch so, als hätte er Zeit, dieses Foto ewig lange zu betrachten. Als laufe bereits das Leben ohne ihn weiter. Nicht weiter schlimm. Hauptsache, Clara war gerettet. Clara würde nicht sterben müssen.
Die fremde Frau, die ein gutherziger Zufall in diesem Augenblick an diesen Platz geführt zu haben schien, half dem Mädchen aus dem Wagen, nahm es hoch und klemmte es gegen die Hüfte. Dann ging sie leicht in die Knie und sah zu Olander in den Wagen hinein. Olander bemerkte das geblümte Kleid der Frau. Ihm gefielen solche Sommerkleider, die eine gewisse Unschuld zum Ausdruck brachten. Keine dumme Unschuld, erst recht keine unerotische, eine zärtliche, aber selbstbewußte Unschuld. Rote Rosen vor violettem Hintergrund. Ja, es waren rote Rosen auf diesem Kleid, wobei das Rot etwas Glänzendes und Durchsichtiges besaß. Nicht wie bei Blut, sondern wie bei Campari. Olander dachte gerne in Alkoholika. Was ihn nicht daran hinderte, den besonderen Blick der Frau zu registrieren. In ihren Augen lag ein Versprechen, das Versprechen, auf das Kind aufzupassen, es sich nicht vom nächstbesten Polizisten wegreißen zu lassen. Achtzugeben, daß Clara so rasch als möglich zu ihrer Mutter kam. Und vor allem, daß Clara nicht zusehen brauchte, wie ihr Vater in diesem Wagen verbrannte.
Die Frau nickte Olander zu. Dann zog sie die Arme stärker um Clara, wandte sich um, legte den Kopf über den des Kindes und lief davon. Die Windschutzscheibe zerbarst, und eine Flamme schoß durch den Wagen, genau über die Stelle, an der Clara gesessen hatte. Olander dachte, was für ein Geschenk es war, das eigene Kind nicht sterben sehen zu müssen. Dafür war er gerne bereit, in der Hölle zu schmoren. Wenn denn das der Deal sein sollte.
Er dachte natürlich an eine andere Hölle als die, in die er bald geraten würde. Er dachte an den Tod. Aber der Tod kam nicht, obgleich Olander meinte, bevor ihn dann die nächste Ohnmacht überfiel, das Feuer habe ihn erreicht. Aber es war nicht das Feuer, sondern Schaum, welcher aus einem Feuerlöscher drang.
Als Olander wieder zu sich kam, ohne wirklich klar zu sehen, war man gerade dabei, ihn aus dem verbogenen Vordersitz herauszuschneiden. Er stammelte den Namen seines Kindes. Aber die Feuerwehrleute hörten ihm nicht zu. Er gab auf, trieb wie im Halbschlaf umher, tatsächliche und imaginierte Tauben durch eine aufgerissene Stelle im Wagendach betrachtend. Etwas später oder sehr viel später beförderte man ihn in einen Rettungswagen. Die Sirene gellte.
Und wo war Clara? Nun, es war wohl nicht üblich, die Kinder danebenzusetzen, wenn der Vater mit Sauerstoffmaske, Infusionsschlauch und blutverschmierten Beinen auf der Tragbahre lag und im Eiltempo durch die Stadt gefahren wurde. Derartiges mutete man nur Ehefrauen zu. Nein, so wie es war, war es gut. Er hatte mehr Glück gehabt, als er verdiente, dachte er.
Irgend jemand, ein kleiner oder großer Geist, der im All lebte und gerade des Weges kam, meinte lächelnd: Niemand verdient Glück. Denn der Sinn ist doch der, daß schlußendlich alles schlecht ausgeht.
Ich phantasiere, stellte Olander fest, dann schlief er ein.
Dabei sollte es eigentlich umgekehrt sein.
3
Er lag in einem Einzelzimmer. Das Fenster war offen, und warme Luft strömte herein. Dem Licht nach zu urteilen, mußte es später Abend sein. Er hatte wohl einige Stunden geschlafen. Er sah auf seine Beine hinunter. Er hatte erwartet, sie in Gips eingepackt vorzufinden. Aber bloß ein dünner, straffer Verband lag jeweils über Knie und Unterschenkel. Das linke Bein konnte er bewegen. Als er jedoch
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