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Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Titel: Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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können. Die Frage beschäftigt uns, so müßig sie sein mag. Denn selten gibt es eine Moral von der Geschichte und noch seltener etwas wiedergutzumachen. Es ist geradezu der Sinn des Unglücks, daß hernach nie wirklich etwas auszubügeln ist. Weder durch Selbstbezichtigung noch durch einen radikalen Wechsel der Lebenseinstellung. Wer bitte sollte sich auch davon beeindrucken lassen, daß ein Folterer nach erfolgter Peinigung sich plötzlich von Gott oder was auch immer erleuchten läßt und ein kleiner Heiliger wird? Der Gefolterte steht da mit seinen Wunden und fühlt sich durch diesen nagelneuen Gutmenschen auch noch verhöhnt. Das Opfer wird nämlich solcherart um seine einzige Macht gebracht. Wie heißt es in diesem ABBA-Song: The winner takes it all . Das ist eine erbärmliche Wahrheit, aber wahr.
    Doch wir bleiben stur und denken darüber nach: Wo und wann begann alles? Hätte ich dieses oder jenes nicht getan, dieses oder jenes anders gemacht, wäre ich auch nur eine Minute, nur wenige Sekunden später…oder früher, ja dann… Wäre ich zehn Zentimeter kleiner gewesen, hätte diese dämliche verirrte Kugel den Mann hinter mir getroffen und ich bräuchte nicht wie ein hirnloser Kartoffelsack in diesem Krankenhausbett zu vegetieren. Und so weiter.
    Freilich, es besteht ein Unterschied zwischen einer vermeidbaren Unachtsamkeit und dem ziemlich unverrückbaren Faktum der eigenen Körpergröße. – Besteht eigentlich wirklich ein Unterschied? Befindet sich nicht alles im Leben auf dem Niveau einer bestimmten Körpergröße?
    Wie auch immer, im nachhinein sollte Vinzent Olander stets aufs neue diesen ganz bestimmten Frühsommertag Revue passieren lassen, vor allem natürlich die dramatischen Ereignisse im Zentrum von Mailand, aber auch die Zeit davor, die Zeit im Flugzeug, die Zeit am Morgen, da er in seiner Wiener Wohnung Claras Koffer gepackt hatte, während er selbst noch am gleichen Abend nach Wien hatte zurückkehren wollen. Er gehörte zu diesen Menschen, für die Fliegen wie Busfahren war. Aber das ist ein Irrtum. Fliegen ist ein Verbrechen. Ein Verbrechen gegen Gott, der uns aus gutem Grund auf dem Boden haben wollte. Oder?
    An diesem Morgen in Wien war Vinzent gleichzeitig glücklich und ein wenig traurig gewesen. Glücklich, mit seiner Tochter zu reisen, was ihm außerordentlich Spaß bereitete, traurig darüber, Clara für die nächsten Wochen an die »Mailänder Fraktion« abgeben zu müssen. Yasmina Perrotti lebte zwischenzeitlich mit einer Größe aus dem Kulturbetrieb zusammen, einem betont mediterran funkelnden Beau, der keine Mühe zu haben schien, Intellektualismus mit einer im chemieverseuchten schwarzen Haar steckenden Sonnenbrille aufs beste zu vereinen. Es gibt Leute, die alles dürfen.
    Hin und wieder erzählte die kleine Clara von Mamas neuem Mann, wie freundlich dieser sei, und vor allem großzügig. Natürlich war dieser Kerl großzügig. Solche Kerle haben immer die richtigen Karten, sie spielen blind und gewinnen. Das wußte Vinzent und wußte auch, daß es vernünftiger war, dies hinzunehmen und nicht etwa zu versuchen, jemand zu überlisten, den man nicht überlisten konnte. Lief man sich über den Weg, dann sagte Olander »Ciao Ugo!«, anstatt diesem Arschloch zu erklären, daß es sich nicht gehöre, eine Sechsjährige bis spät in die Nacht auf eine Vernissage mitzuschleppen, so sehr das dieser Sechsjährigen vielleicht auch Spaß machte. Olander war in solchen Momenten der Begegnung stets hellwach und konzentriert. Er wollte sich keine Blöße geben. Er wollte nicht tun, worauf der andere wartete, spucken oder schlagen oder ausfallend werden. Olanders einzige Chance bestand darin, ein guter Verlierer zu sein. Wobei es ja nicht um Yasmina ging, sondern um Clara.
    An diesem letzen Morgen, bevor Olander sein Kind wieder nach Mailand brachte – nach Ugo-Land, wie Olander das bei sich nannte –, saßen Vater und Tochter beim Frühstück und unterhielten sich über harmlos wichtige Dinge wie jenen froschgrünen Plastikgürtel, den Clara von einer Freundin geschenkt bekommen hatte. Während Olander halb hinhörte, bestrich er eine Brotscheibe mit Nutella und folgte mit seinem Blick den Spuren der Messerzacken, die das Braun der Schokocreme ackermäßig unterteilten.
    In die flüchtige Aufmerksamkeit – zwischen Schokoladefeld und Plastikgürtel – brach ein feines, rundes, ein wenig hohl klingendes Geräusch, das Vinzent so vertraut war, wie es ihn immer wieder aufs neue

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