Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
bemächtigte sich des Sto ff s: ausgerechnet Eugène Scribe, ihr repräsentativer Librettist, brachte, von Eugène Sues Erfolgsroman Le juif errant (1844) inspiriert, 1851 eine gleichnamige Oper mit der Musik von Halévy auf die Bühne, die sogar von Wagners dramatischer Ballade beein fl usst sein könnte. Wagner stand ja in persönlichem Kontakt zu Scribe, dem er 1836 vergeblich seine Hohe Braut als Opernsujet schmackhaft zu machen versucht hatte und den er sich ursprünglich auch als Librettisten des Fliegenden Holländers wünschte. Den französischen Prosaentwurf von Le Hollandais volant – (nom d’un fantôme de mer) hat Scribe jedenfalls von Wagner erhalten und vermutlich gelesen. Auch das auf der Bühne der Grand Opéra gestrandete Vaisseau fantôme wird er gekannt haben. Der »Jüngste Tag«, den Wagners Holländer in seinem Auftrittsmonolog beschwört (»Wann dröhnt er, der Vernichtungs-Schlag, / mit dem die Welt zusammenkracht? / Wann alle Todten auferstehn, / dann werde ich in Nichts vergeh’n!« GS I, 261), er wird in Halévys/Scribes Oper als genretypischer apokalyptischer Weltenbrand inszeniert, der Ahasver vom Fluch der Wiederkehr erlösen soll. Doch was im Fliegenden Holländer bloße Vision, ist auch im Juif errant nur der Traum Ahasvers, aus dem er zu neuer endloser Wanderung erwacht: »Marche! marche! marche toujours! Toujours!!!«
Ahasver wird im 19. Jahrhundert geradezu zum Existenzsymbol des modernen Künstlers in seiner Unbehaustheit und seinem Leiden am Dasein. Die »Künstler«, die »Genies«, so Nietzsche im Fall Wagner , »das sind ja die ›ewigen Juden‹« (SW VI, 18). Auch Wagner hat den Ahasver-Mythos auf sich selber bezogen. So schreibt er am 21. Juni 1859 an Mathilde Wesendonck, er müsse sich davor hüten, eine Leidenschaft für Pferde zu entwickeln, da »der Wanderung des ewigen Juden kein Pferd beigegeben sein« dürfe (SB XI, 137). So wie in Ahasver hat er sich zweifellos auch im Fliegenden Holländer und im »Wanderer« Wotan gespiegelt, den er in einem Gespräch mit Cosima am 23. Januar 1879 als »eine Art Fliegenden Holländer« (CT II, 295) bezeichnet.
Karl Leberecht Immermann hat Wilhelmi in seinem Roman Epigonen (1825 ff .) die für die Stimmung des Weltschmerzes charakteristischen Worte in den Mund gelegt: »Unglücks haben die Menschen zu allen Zeiten genug gehabt, der Fluch des gegenwärtigen Geschlechts ist aber, sich auch ohne alles besondere Leid unselig zu fühlen.« Das Dasein als solches wird zum Unglück. Und so ist es der entsetzlichste aller Gedanken: zu ewigem Leben verdammt zu sein wie Ahasver oder der Fliegende Holländer, »der ewige Jude des Ozeans«, wie Heine ihn in seiner Erzählung nennt. Nur eines kann den auf dem Holländer lastenden Fluch – »der Verdammnis Schreckgebot« (GS I, 261): ewig leben zu müssen – lösen, nämlich der Treueschwur einer Frau. Das scheint eine unerfüllbare Bedingung zu sein. »Vergeb’ne Ho ff nung! Furchtbar eitler Wahn!«
Die einzige ›Ho ff nung‹, die dem Holländer bleibt, ist das Ende der Welt, der Jüngste Tag:
Wann alle Todten aufersteh’n,
dann werde ich in Nichts vergeh’n.
Ihr Welten, endet euren Lauf!
Ew’ge Vernichtung, nimm uns auf! (GS I, 261)
»Vernichtung« statt »Erlösung« (durch die Liebe oder in der Auferstehung der Toten am Ende der Zeit) scheint dem Holländer beschieden zu sein, so wähnt er in radikaler Verzwei fl ung. Vom Heil wie von der Verdammnis dünkt er sich ausgeschlossen: als einziger von allen Menschen wird er im »Nichts« versinken. Seine »Verdammniß« wird nicht erst am »Tag des Gerichts« bestimmt (GS I, 261), sondern er muss sie schon jetzt erleiden, da ihm das Heil des Todes verwehrt ist. Die ursprünglichen religiösen Vorstellungen vom Tod (als Strafe der Erbsünde), vom Heil (als Erweckung zum ewigen Leben) und von der Verdammnis (als ewigem Tod oder als Höllenpein nach dem Erdenleben) sind hier in ihr Gegenteil verkehrt.
In seiner Rechtfertigungsschrift Eine Mittheilung an meine Freunde (1851) hat Wagner die Gestalt des Fliegenden Holländers als eine Synthese von Odysseus, Ahasver und Kolumbus gedeutet. Er schreibt: »Die Gestalt des › fl iegenden Holländers‹ ist das mythische Gedicht des Volkes: ein uralter Zug des menschlichen Wesens spricht sich in ihm mit herzergreifender Gewalt aus. Dieser Zug ist, in seiner allgemeinsten Bedeutung, die Sehnsucht nach Ruhe aus Stürmen des Lebens. In der heitern hellenischen Welt tre ff en wir ihn in den
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