Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Irrfahrten des Odysseus und in seiner Sehnsucht nach der Heimath, Haus, Herd und – Weib, dem wirklich Erreichbaren und endlich Erreichten des bürgerfreudigen Sohnes des alten Hellas. Das irdisch heimathlose Christentum faßte diesen Zug in der Gestalt des ›ewigen Juden‹: diesem immer und ewig, zweck- und freudlos zu einem längst ausgelebten Leben verdammten Wanderer blühte keine irdische Erlösung; ihm blieb als einziges Streben nur die Sehnsucht nach dem Tode, als einzige Ho ff nung die Aussicht auf das Nichtmehrsein. Am Schlusse des Mittelalters lenkte ein neuer, thätiger Drang die Völker auf das Leben hin: weltgeschichtlich am erfolgreichsten äußerte er sich als Entdeckungstrieb. Das Meer ward jetzt der Boden des Lebens, aber nicht mehr das kleine Binnenmeer der Hellenenwelt, sondern das erdumgürtende Weltmeer. Hier war mit einer alten Welt gebrochen; die Sehnsucht des Odysseus nach Heimath, Herd und Eheweib zurück hatte sich, nachdem sie an den Leiden des ›ewigen Juden‹ bis zur Sehnsucht nach dem Tode genährt worden, zu dem Verlangen nach einem Neuen, Unbekannten, noch nicht sichtbar Vorhandenen, aber im Voraus Empfundenen, gesteigert. Diesen ungeheuer weit ausgedehnten Zug tre ff en wir im Mythos des fl iegenden Holländers, diesem Gedichte des Seefahrervolkes aus der weltgeschichtlichen Epoche der Entdeckungsreisen. Wir tre ff en auf eine vom Volksgeist bewerkstelligte merkwürdige Mischung des Charakters des ewigen Juden mit dem des Odysseus. Der holländische Seefahrer ist zur Strafe seiner Kühnheit vom Teufel (das ist hier sehr ersichtlich: dem Elemente der Wasser fl uthen und der Stürme) verdammt, auf dem Meere in alle Ewigkeit rastlos umherzusegeln. Als Ende seiner Leiden ersehnt er, ganz wie Ahasveros, den Tod; diese dem ewigen Juden noch verwehrte Erlösung kann der Holländer aber gewinnen durch – ein Weib , das sich aus Liebe ihm opfert: die Sehnsucht nach dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dieß Weib ist aber nicht mehr die heimathlich sorgende, vor Zeiten gefreite Penelope des Odysseus, sondern es ist […] das Weib der Zukunft .« (GS IV, 265 f.)
Wagner verknüpft in dieser kühnen mythologischen Synopse Altertum (Sehnsucht nach der Heimat), Mittelalter (Sehnsucht nach dem Tode) und Neuzeit (Sehnsucht nach dem Neuen) zu einem utopischen Mythos. Der neuzeitliche Entdeckungstrieb schlägt, durch die absurde Verewigung des Unterwegsseins, ohne dass dessen Ziel: das ›Neue‹ sich je zeigte, in Sehnsucht nach dem Nichtmehrsein um. Fortschrittsdenken verdüstert sich zu Geschichtspessimismus. Was aber ist mit dem »Weib der Zukunft« gemeint, das Erlösung von der Absurdität des ewigen Unterwegs bringen soll?
Die Heimatlosigkeit des Fliegenden Holländers wird von Wagner in Eine Mittheilung an meine Freunde als symbolische Projektion seiner eigenen Situation in den Pariser Elendsjahren beschrieben. »Ein emp fi ndungsvoller sehnsüchtiger Patriotismus stellte sich bei mir ein, von dem ich früher durchaus keine Ahnung gehabt hatte.« Anders als der »bürgerfreudige« Odysseus sehnt Wagner sich aber nicht eigentlich nach Deutschland zurück , die Heimat ist ihm durchaus kein politisches Ideal, »denn so aufgeklärt war ich allerdings schon damals, daß das politische Deutschland, etwa dem politischen Frankreich gegenüber, nicht die mindeste Anziehungskraft für mich besaß. Es war das Gefühl der Heimathlosigkeit in Paris, das mir die
Sehnsucht nach der deutschen Heimath erweckte: diese Sehnsucht bezog sich aber nicht auf ein Altbekanntes, Wiederzugewinnendes, sondern auf ein geahntes und gewünschtes Neues, Unbekanntes, erst zu Gewinnendes. […] Es war die Sehnsucht des fl iegenden Holländers nach dem Weibe – aber, wie gesagt, nicht nach dem Weibe des Odysseus, sondern nach dem erlösenden Weibe, dessen Züge mir in keiner sicheren Gestalt entgegentraten, das mir nur wie das weibliche Element überhaupt vorschwebte; und dieß Element gewann hier den Ausdruck der Heimath , d. h. des Umschlossenseins von einem innig vertrauten Allgemeinen, aber einem Allgemeinen, das ich noch nicht kannte, sondern nur ersehnte, nach der Verwirklichung des Begri ff es ›Heimat‹« (GS IV, 268).
Derselbe Begri ff bildet das letzte Wort in Ernst Blochs Hauptwerk Das Prinzip Ho ff nung (1959); hier wie dort ist er »etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat« (so der Schlusssatz von Blochs opus summum). Diese Heimat einer terra utopica
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