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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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durfte, der mit seinem reisenden Wagner-Ensemble den Ring des Nibelungen in ganz Europa bekannt machte. Schon zuvor, 1880, als Bernhard Förster, der Schwager Nietzsches, einer der rüdesten Vertreter des politischen Antisemitismus zu dieser Zeit, eine »Massenpetition gegen das Überhandnehmen des Judentums« initiiert, lehnt Wagner eine Unterschrift seinerseits ab (siehe den Tagebucheintrag Cosimas vom 16. Juni 1880).
    Wagner hat über seine diplomatischen Erwägungen hinaus Angelo Neumann gegenüber einen theoretischen Grund für seine Ablehnung der antisemitischen Bewegung genannt: »ein nächstens in den ›Bayreuther Blättern‹ erscheinender Aufsatz von mir wird dies in einer Weise bekunden, daß Geistvollen es sogar unmöglich werden dürfte, mich mit jener Bewegung in Beziehung zu bringen.« Es handelt sich hier um den Aufsatz Heldenthum und Christenthum (1881), in dessen Mittelpunkt der Gedanke einer Überwindung der Rassengegensätze steht. Man könne sich nicht davor verschließen, »daß das menschliche Geschlecht aus unausgleichbar ungleichen Racen besteht« (GS X, 275), heißt es zunächst unter Berufung auf Arthur Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines (1853–55). Und doch sei »beim Überblick aller Racen die Einheit der menschlichen Gattung unmöglich zu verkennen«; in dem sie konstituierenden Moment sei »die Anlage zur höchsten moralischen Entwicklung« zu erfassen (GS X, 276 f.). Gegen die Ungleichheit der Rassen gibt es für Wagner ein »Antidot«, dessen Genuss gerade den »niedrigsten Racen« – im Abendmahl als »dem einzigen ächten Sakramente der christlichen Religion« – zur Gleichheit mit den höheren verhilft: das »Blut Jesu« (GS X, 283). »Das Blut des Heilandes, von seinem Haupte, aus seinen Wunden am Kreuze fl ießend, – wer wollte frevelnd fragen, ob es der weißen, oder welcher Race sonst angehörte? Wenn wir es göttlich nennen, so dürfte seinem Quelle ahnungsvoll einzig in Dem, was wir als die Einheit der menschlichen Gattung ausmachend bezeichneten, zu nahen sein, nämlich in der Fähigkeit zu bewußtem Leiden.« (GS X, 280 f.)
    Das ist indirekt gegen Gobineau gerichtet. »Gedenkt man des Evangeliums«, bemerkte Wagner bereits am 14. Februar 1881 – einen Tag, nachdem er, zunächst aus zweiter Hand, mit Gobineaus Essai bekannt wurde –, wisse man, »daß es auf etwas andres ankommt als auf Racenstärke« (CT II, 690). Trotz aller persönlichen Sympathie und Bewunderung für Gobineau, den er 1876 und 1880 in Italien kennengelernt hatte und der ihn 1881/82 in Bayreuth besuchte, protestiert er in den Gesprächen mit Cosima (und wohl auch unmittelbar Gobineau gegenüber) immer wieder gegen dessen fatalistischen Rassengedanken. So merkwürdig es heute klingen mag: Wagner war zwar Antisemit, aber kein Rassist, Gobineau hingegen Rassist, aber kein Antisemit. »Bei Tisch explodiert er [Wagner] förmlich zu Gunsten des Christlichen gegenüber dem Racengedanken«, heißt es am 2. Juni 1881 (CT II, 744). Seine eigene Musik, sein Tristan ist in seinen Augen gar »die Musik für die Aufhebung aller Schranken, also auch der Racen« (CT II, 751; 19. Juni 1881).
    Das »Blut des Heilandes« konnte als »göttliches Sublimat« der »ganzen leidenden menschlichen Gattung […] nicht für das Interesse einer noch so bevorzugten Race fl ießen; vielmehr spendet es sich dem ganzen menschlichen Geschlechte«. So Wagner in Heldenthum und Christenthum (GS X, 282 f.). Im Geiste Jesu soll sich die Verwandlung der Menschheit von einem »natürlichen«, durch den Antagonismus der Rassen bestimmten Zustand zu einem »moralischen« vollziehen, der die allgemeine Übereinstimmung der menschlichen Gattung verwirklicht (GS X, 284 f.). Vor diesem Hintergrund ist die widersprüchliche Haltung zum Judentum beim späten Wagner zu sehen. Einerseits kann er sich nicht von seiner neurotischen Zwangsvorstellung einer Verfolgung seiner Person und seines Werks von jüdischer Seite befreien, sieht sich vielmehr in ihr durch die neue antisemitische Bewegung bestätigt, anderseits widerspricht diese Bewegung seiner Überzeugung von der Einheit des Menschengeschlechts und der bloßen ›Vorläu fi gkeit‹ des Rassengegensatzes. In dieser Überzeugung aber sieht er die Grundlage seines eigenen musikdramatischen Werks, das sich dergestalt über die antisemitische Obsession seines Autors erhebt.

Ästhetik des musikalischen Dramas
    Im Winter 1850/51 arbeitet Wagner an seinem theoretischen Hauptwerk

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