Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Prämissen identi fi ziert hat. Die genannte Schrift von Wilhelm Marr hat er sofort nach ihrem Erscheinen gelesen. Cosima vermerkt im Tagebuch vom 27. Februar 1879 über diese Broschüre, sie enthalte »Ansichten […], die, ach! Richards Meinung sehr nahe stehen« (CT II, 309). Die späteren antisemitischen Pamphlete Marrs – die ihm regelmäßig zugesandt wurden – hat er allerdings als allzu »seicht« empfunden (wie Cosimas Tagebuch vom 14. Juli 1879 berichtet).
Jedenfalls hat er nahezu alle entscheidenden antisemitischen Publikationen zur Kenntnis genommen, die um 1880 erschienen sind, ob es sich um die einschlägigen Schriften von Constantin Frantz, Paul de Lagarde, Wilhelm Marr oder Eugen Dühring u. a. handelt. Trotz mancher Skepsis hat er dem antisemitischen Schrifttum im Prinzip, seinen privaten Äußerungen zufolge, seine Zustimmung nicht versagt. Auch mit Adolf Stöcker hat er unverhohlen sympathisiert. Dieser gründete 1878 die »Christliche-soziale Bewegung«, aus der 1880 die »Berliner Bewegung« hervorging, die Keimzelle der in den nächsten Jahrzehnten aus dem Boden schießenden antisemitischen Parteien bis hin zur »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« (seit 1919). Stöcker entfachte eine zelotische Agitation gegen die »jüdische Vorherrschaft« in Wirtschaft, Politik und Presse mit dem Ziel der Aufhebung der politischen Rechte der Juden. In seinen Gesprächen mit Cosima nimmt Wagner wiederholt positiv Stellung zu Stöckers Programm. »Ich lese eine sehr gute Rede des Pfarrers Stöcker über das Judentum«, schreibt Cosima am 11. Oktober 1879 in ihr Tagebuch. »R[ichard] ist für völlige Ausweisung. Wir lachen darüber, daß wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden den Anfang dieses Kampfes gemacht hat.« (CT II, 424) Hier wird also von Wagner selber sein Aufsatz über das musikalische Judentum als Initialzündung der antisemitischen Agitation ausgegeben.
In den Tagebüchern Cosimas fi nden sich allerdings häu fi g auch positive Worte Wagners über die Juden, wobei die Skala der A ffi rmation von ironischer Anerkennung bis zu unverhohlener Bewunderung reicht. Das betri ff t zumal das antike Judentum, mit dem Wagner durch Gfrörers durchaus philosemitisch geprägte Geschichte des Urchristenthums bekannt wurde, die für ihn in der Parsifal -Zeit große Bedeutung gewinnt. Die Juden allein hätten »den Sinn für das Ächte sich bewahrt […] den die Deutschen so ganz verloren hätten«, bemerkt er einmal, weshalb »manche sich an ihn klammerten« (CT II, 829; 22. November 1881). Als die Repräsentanten der ältesten Religion seien sie »doch die allervornehmsten« (CT II, 129; 2. Juli 1878) – ein Gedanke, der auch in einem Gespräch über Joseph Rubinstein anklingt: »So ein Jude benimmt sich doch ganz anders wie wir Deutschen, sie wissen, ihnen gehört die Welt, wir sind des hérités!« (CT II, 94; 15. Mai 1878) Eine Anschauung, die in den Gesprächen mit Cosima ständig wiederkehrt, ist die, »daß die Juden mindestens 50 Jahre zu früh uns amalgamiert worden sind«: »wir mußten erst etwas sein«, d. h. wir hätten erst selbst – nach so langer Abhängigkeit vom romanischen Vorbild – kulturell emanzipiert sein müssen (CT II, 247; 1. Dezember 1878). So aber hätten die Juden »zu früh in unsere Kulturzustände eingegri ff en« und verhindert, »daß das allgemein Menschliche, welches aus dem deutschen Wesen sich hätte entwickeln sollen, […] auch dem Jüdischen zugute« gekommen wäre (CT II, 290; 13. Januar 1879). »Wenn ich noch einmal über die Juden schriebe, würde ich sagen, es sei nichts gegen sie einzuwenden, nur seien sie zu früh zu uns Deutschen getreten, wir seien nicht fest genug gewesen, um dieses Element in uns aufnehmen zu können.« (CT II, 236 f.; 22. November 1878)
Wagner hat aus seiner theoretischen Judenfeindschaft im übrigen kaum Konsequenzen für seinen persönlichen Umgang gezogen, wie sein jüdischer Freundeskreis zeigt (zu dem u. a. Karl Tausig, Heinrich Porges, Joseph Rubinstein, Hermann Levi und Angelo Neumann gehörten). Trotz seiner vielfach privat geäußerten Sympathie mit der antisemitischen Bewegung hat er eine o ffi zielle Verteidigung ihrer Ziele konsequent vermieden, ja sich in dem erwähnten Brief an Angelo Neumann vom 23. Februar 1881 ausdrücklich von ihr distanziert, freilich nicht zuletzt auch aus der diplomatischen Erwägung heraus, dass er sich die Gunst des ein fl ussreichen Intendanten nicht verscherzen
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