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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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kulturellen Moderne im späten 19. Jahrhundert spielen Künstler und Intellektuelle jüdischer Herkunft eine essentielle Rolle, die in starkem Kontrast zu dem verschwindend geringen Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung steht, der nicht einmal ein Prozent umfasst. Der von daher ›überrepräsentative‹ Anteil der Juden an der Herausbildung der Moderne – man spricht sogar von einer jüdischen Modernisierungselite – hat im Gegenzug eine antimodernistische Opposition in Bewegung gesetzt. In seinem Aufsatz Modern von 1878 schreibt Wagner, »das Moderne« sei zwar keine »Er fi ndung« der »neuen jüdischen Mitbürger«, aber doch namentlich von Juden propagiert und »durch die Geldmacht« zu epochaler Wirkung gebracht worden (GS X, 56). Dagegen lehnt Wagner sich auf – und bleibt doch trotz antimodernistischer Attitüde ein Moderner, ja von seinen eigenen Prämissen her betrachtet – wie von vielen Zeitgenossen hämisch bemerkt – ein Repräsentant jüdischer Modernität.
    Wagners Judenfeindschaft ist o ff enbar die Nachwirkung seiner Pariser Notjahre 1839–41. Der ihm weithin verschlossene Pariser Kunstbetrieb, in dem Juden vielfach eine führende Rolle spielten, die Demütigung durch ständige Misserfolge, die Konkurrenzspannung zu Meyerbeer, trotz oder gerade wegen der Protektion, die er ihm verdankte, die Verquickung eines tiefsitzenden Neidkomplexes mit frisch angelesener Ideologie: zumal dem von antijüdischen Akzenten nicht freien Gedankengut des französischen Frühsozialismus (Proudhon) – all dies erklärt zu einem guten Teil die aufkeimende Idiosynkrasie Wagners gegen alles Jüdische.
    In Wagners Schriften nach 1850 spielt die Judenfrage (abgesehen von der Neuauflage des Judentum-Aufsatzes im Jahre 1869) nur noch eine periphere Rolle – ganz zu schweigen von seinem musikdramatischen Werk, in dem keine einzige dramatis personae auftaucht, die direkt als jüdisch zu bestimmen wäre, und auch keine, die er selbst als unterschwellig jüdisch ausgegeben hätte. In seinen Schriften, Briefen und Gesprächen gibt es keine einzige Äußerung in diesem Sinne. Auch sprachlich heben sich Figuren, die man als jüdische Charaktermasken zu dechi ff rieren versucht hat – namentlich das Nibelungenpaar Alberich und Mime – von der Stabreimsprache der anderen Figuren nicht ab. Schon Alfred Einstein hat in seinem Aufsatz Der Jude in der Musik (in der dem Zionismus nahestehenden Zeitschrift Der Morgen ) konstatiert, dass die spezi fi schen musikalischen Ausdrucksmittel für die Darstellung jüdischer Charaktere und Gep fl ogenheiten, wie er sie seit der Renaissance nachweist, bei Wagner fehlen. Der »eigentliche Antisemit unter den Musikern« sei doch als Musiker »so groß, so objektiv, daß man nirgends bei ihm an ›jüdische‹ Realistik erinnert wird«. Die musikalische Sprache Wagners sei nie in einem »spezi fi schen Sinne« (im Hinblick auf eine direkte oder indirekte Charakterisierung seiner fi ktiven Gestalten als jüdisch) zu entschlüsseln. Dass sich Wagners musikdramatischer Universalismus über alles Ethnisch-Partikuläre erhebt, demonstriert Einstein zumal an Kundry im Parsifal. Das Thema des Judentums ist – abgesehen von der biblischen Gestaltenwelt im Hintergrund der Meistersinger – allein für Wagners letztes Musikdrama von Bedeutung, das aber durch sein intensives Studium von August Gfrörers dreibändiger Geschichte des Urchristenthums (1838) in einem durchaus positiven Sinne von den jüdischen Geheimlehren zur Zeit des Urchristentums und der Kabbala inspiriert ist.
    Durch die vor allem seit Wilhelm Marrs Pamphlet Der Sieg des Judentums über das Germanentum (1879) und durch die Agitation des preußischen Hof- und Dompredigers Adolf Stöcker, des ein fl ussreichsten politischen Repräsentanten der Bewegung, heftig um sich greifende antisemitische Agitation wird Wagner in seinen letzten Lebensjahren wieder massiv mit der Judenfrage konfrontiert. Obwohl er den Begri ff des Antisemitismus nur in Anführungszeichen gebraucht und in seinem Brief vom 23. Februar 1881 an den Berliner Theaterdirektor Angelo Neumann, einen seiner zahlreichen jüdischen Freunde, bekundet, der »gegenwärtigen ›antisemitischen‹ Bewegung« stehe er »vollständig fern«, zeigen die Tagebücher Cosima Wagners doch, dass er die Anfänge der antisemitischen Agitation um 1880 nicht nur mit Aufmerksamkeit verfolgt, sondern sich immer wieder, wenn auch nicht immer mit ihren Zielen, so doch mit ihren ideologischen

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