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Richter 07

Richter 07

Titel: Richter 07 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gulik
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getrennt hatte, ging er die Straße hinunter, ein lustiges Lied pfeifend. Bald hatte er die Hauptverkehrsader der Insel erreicht.
    Dort drängten sich Menschen aller Art; sie bewegten sich hin und her unter den Zierbögen aus farbigem Stuck, die die Straße in regelmäßigen Abständen überspannten, und machten sich den Weg mit den Ellbogen frei, wenn sie die hohen Eingänge der Spielsäle durchschreiten wollten. Kuchen- und Nudelverkäufer überschrien sich, wenn sie ihre Ware ausriefen und in der geräuschvollen Menge gehört werden wollten. Sobald der Lärm etwas nachließ, hörte man das Klappern der Kupfermünzen, die von ein paar kräftigen Burschen in einem hölzernen Trog am Eingang jedes Spielsaals durcheinandergeschüttelt wurden. Damit fährt man die ganze Nacht hindurch fort, denn dieser glückverheißende Klang des Geldes soll nicht nur das Spielerglück, sondern auch die Spieler selbst anlocken.
    Ma Jung blieb vor einem hohen Holzpodest stehen, das neben der Tür des größten Spielsaals errichtet war. Dort waren Stöße von Platten und Schüsseln aufgeschichtet, die mit Zuckerkonfekt und kandierten Früchten gefüllt waren. Darüber befand sich ein Gerüst, auf dem reihenweise Papiermodelle von Häusern, Karren, Booten, Möbeln aller Art sowie Berge von Stoffballen, ebenfalls aus Papier, lagen oder standen. Dieses Gerüst stellte einen der vielen zu Beginn des siebenten Monats errichteten Altäre dar, die der Verehrung der Seelen der Verstorbenen geweiht waren. Während das Totenfest andauerte, streiften diese Seelen nach dem Volksglauben unter den Lebenden frei umher. Die Geister sollten sich an den ausgestellten Speisen laben und ihre Wahl treffen unter den Papiermodellen, die sie für ihr Dasein im Jenseits brauchten. Am dreißigsten Tag des siebenten Monats, der das Ende der Feier bildet, wird alles Eßbare unter die Armen verteilt, die Papiermodelle werden verbrannt, damit der Rauch die gewählten Gegenstände an ihre unirdischen Bestimmungsorte befördern kann. Die Totenfeier soll das Volk daran mahnen, daß der Tod kein endgültiger Abschied ist, denn einmal im Jahr kehren die Verstorbenen zurück und nehmen ein paar Wochen lang teil am Leben derjenigen, die ihnen lieb und teuer gewesen sind.
    Nachdem Ma Jung eine Weile die zur Schau gestellten Dinge bewundert hatte, sprach er grinsend zu sich selbst:
    »Onkel Pengs Seele wird schwerlich hier sein! Für Naschereien hatte er nicht viel übrig, doch ein Spielchen am runden Tisch konnte ihn zu seinen Lebzeiten mächtig begeistern! Und Glück mußte er dabei wohl gehabt haben, denn wie wäre es sonst möglich gewesen, mir zwei gute, solide Goldbarren zu hinterlassen? Ich wette, daß seine Seele über den Spieltischen schwebt. Besser, ich gehe hinein, vielleicht gibt er seinem jungen Neffen ein paar nützliche Winke!«
    Er trat in die Halle, zahlte zehn Kupferlinge und beobachtete eine Weile die dichte Menge, die sich um den großen Spieltisch in der Mitte drängte. Hier war das einfachste und volkstümlichste Spiel im Gang; man hatte auf die genaue Anzahl der Kupfermünzen zu setzen, die der Spielleiter am Tisch unter einer umgekehrten Reisschüssel verdeckt hielt. Dann bahnte sich Ma Jung mit den Ellbogen seinen Weg zur Treppe im Hintergrund.
    Oben im großen Saal des ersten Stockes saßen die Spieler in Gruppen von sechs Personen um ungefähr ein Dutzend kleinere Tische herum und unterhielten sich mit verschiedenen Karten- und Würfelspielen. Alle Kunden waren hier gut angezogen, an einem Tisch bemerkte Ma Jung sogar zwei Männer, die Amtsmützen trugen. An der Hinterwand hing ein rotes Plakat, auf dem in großen schwarzen Lettern geschrieben stand: »Jedes Spiel darf nur gegen sofortige Barkasse gemacht werden.«
    Während Ma Jung noch überlegte, an welchem Tisch er sich niederlassen sollte, schlängelte sich ein kleiner Buckliger an ihn heran. Er trug ein sauberes blaues Gewand, doch war sein großer Kopf mit dem unordentlichen grauen Haar unbedeckt. Indem er mit seinen lebhaften Äuglein zu dem hochgewachsenen Ma Jung aufschaute, ließ er seine schrille Stimme vernehmen:
    »Wenn Ihr spielen wollt, müßt Ihr mir erst mal Eure Barschaft vorweisen, die Ihr bei Euch habt.«
    »Was geht die Euch an?« fragte Ma Jung ärgerlich.
    »Alles!« antwortete eine tiefe Stimme in seinem Rücken.
    Ma Jung drehte sich um und fand sich Auge in Auge mit einem riesigen Mann, ebenso groß wie er selbst, jedoch mit einem Brustkasten, der eher einem Fasse glich.

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