Richter 07
jemand am vergitterten Fenster vorbeigegangen war.
Der Richter raffte seine dünne Unterkleidung fester an sich und ging ins Wohnzimmer. Dort legte er sich auf dem Ruhebett nieder. Jetzt machte sich die Müdigkeit bemerkbar, so daß er bald in einen traumlosen Schlaf fiel.
Er erwachte, als das fahle Licht der Morgendämmerung in den Raum fiel. Ein Diener hantierte geschäftig in der Nähe des Tisches, auf dem er heißen Tee bereitete. Richter Di sagte ihm, daß er seinen Morgenreis auf der Veranda einzunehmen wünsche. Noch umgab ihn die Kühle der Nacht, doch mit der steigenden Sonne würde es bald wieder heiß werden.
Der Richter suchte ein frisches Untergewand hervor und begab sich hierauf ins Badezimmer der Herberge. In dieser frühen Morgenstunde hatte er den großen Badezuber ganz für sich allein, und so gab er sich dem Genuß eines ausgedehnten Bades hin. Als er in den Roten Pavillon zurückkehrte, fand er eine Schüssel Reis und eine Platte mit gesalzenem Gemüse auf dem kleinen Verandatisch als Frühstück bereit. Er wollte gerade mit den Eßstäbchen zulangen, als die Glyziniendolden auf der rechten Seite der Veranda beiseite geschoben wurden. Ma Jung trat hervor und wünschte dem Richter einen guten Morgen.
»Wo kommst du her?« fragte ihn Richter Di verwundert.
»Gestern abend, Herr, machte ich noch eine kleine Runde hierherum. Ich entdeckte einen schmalen Seitenpfad, der vom Hauptweg im Park abzweigt und zu dieser Veranda führt. Von deren linkem Ende geht ein andrer Pfad direkt zum Pavillon der Blumenkönigin. Sie sagte also, diesmal wenigstens, die Wahrheit, als sie gestern abend behauptete, sie könne den Weg über diese Veranda zu ihrem Haus abschneiden. Das erklärt auch, wieso sie hierherkommen und das Rote Zimmer besuchen konnte, ohne daß die Leute in der Herberge etwas davon merkten. Haben Euer Gnaden gut geschlafen?«
Während der Richter an einem Stück gesalzenem Kohl kaute, bedachte er, daß es besser sei, Ma Jung gegenüber von seinen Erlebnissen der letzten Nacht zu schweigen. Er wußte, daß nur Geistererscheinungen seinen furchtlosen Gehilfen erschrecken konnten. So antwortete er:
»Danke, ziemlich gut. Hattest du Glück am Landesteg?«
»Ja und doch wieder nein! Bei Tagesanbruch langte ich dort an, als die Fischer gerade auf den Fang auslaufen wollten. Fengs Dschunke lag am Ufer fest; die Bootsleute fingen just an, die ausgebesserte Bootswand zu streichen. Der Schiffer ist eine biedere Seele; er führte mich gleich durchs ganze Schiff. Es hat eine Menge Segel, und die Kabinen am Heck sind so reich ausgestattet wie die Zimmer einer Herberge an Land. Auch breite Balkone haben sie. Als ich ihn über den Zusammenstoß befragte, lief der Schiffer vor Zorn rot im Gesicht an und sparte nicht mit Kraftausdrücken. So gegen Mitternacht hatte das andre Boot Fengs Dschunke gerammt, was ganz die Schuld der Besatzung des Akademikers war, denn deren Schiffer war sinnlos betrunken. Der Akademiker selbst jedoch war ziemlich nüchtern gewesen. Fräulein Feng eilte im Nachtkleid auf ihren Balkon hinaus, denn sie glaubte, das Schiff sinke. Der Akademiker trat näher an sie heran und brachte seine Entschuldigungen vor. Der Schiffer sah sie zusammen vor ihrer Kabine stehen.
Nun also, die Bootsleute arbeiteten die ganze Nacht, um die beiden Schiffe wieder klarzukriegen, aber erst bei Tagesanbruch waren sie so weit, daß die Dschunke des Akademikers das andre Schiff an den Landesteg schleppen konnte. Dort war nur eine einzige Sänfte aufzutreiben, die Fräulein Feng für sich und ihre Zofe mietete. Es dauerte dann eine ganze Weile, bis mehr Tragstühle ankamen, die Li und seine feuchtfröhlichen Kumpane hier zu dieser Herberge schaffen sollten. In der Wartezeit saßen die fünf Herren in der Hauptkabine und pflegten ihren Kater. Indessen war der Akademiker in heiterster Stimmung und wanderte auf dem Landesteg auf und ab. Kein Mensch sah jedoch den Händler Wen.«
»Wahrscheinlich haben deine Freunde Krabbe und Krebs die Geschichte erfunden, um dem Wen etwas am Zeug zu flicken«, bemerkte Richter Di gleichgültig.
»Kann sein. Doch logen sie nicht über ihren Kürbisgarten. Obwohl ein leichter Nebel über dem Flusse hing, konnte ich die Krabbe und den Krebs drüben am andern Ufer werkeln sehen. Weiß nicht, was mit dem Krebs los war; der kleine Kerl hopste wie ein Verrückter herum. Daß ich’s nicht vergesse, auch den Aussätzigen sah ich, Herr. Er stand da und beschimpfte einen Bootsmann, weil
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