Richter
auf! Heute zeige ich euch ein neues Spiel. Hört gut zu!«
Am 1. Oktober 1966 hatte der neue Lehrer, ein junger Mann mit runder Brille, Pullover und Cordhosen, die Nachfolge des alten Offiziers der Republik von Salò angetreten, der den Schülern der Fratelli-Bandiera-Grundschule von Novere dank seines fleißigen Gebrauchs der Rute in trauriger Erinnerung war, und auch wegen seiner eigentümlichen Schlussformel nach dem morgendlichen Vaterunser, das er stets mit »So ist es« beendete.
»Ihr kleinen Dummköpfe, was soll das überhaupt heißen, so sei es ? Wollt ihr etwa das Wort des Allmächtigen anzweifeln? So ist es muss es heißen, Herrgott noch mal!«
Und los ging es mit schnellen Stockhieben nach den Unfolgsamen, und ebenso schnell erklomm er wieder das Katheder, wo er mit einer Hand das Klassenbuch öffnete und sich mit der anderen über den Schnurrbart strich.
Maestro Vito hingegen erhob nie die Stimme, verteilte keine Kopfnüsse nach rechts und nach links, und abgesehenvon seiner eingefleischten Unfähigkeit, die »o« und »e« korrekt auszusprechen – das lag an seiner Herkunft aus Apulien –, war er ein sympathischer, fröhlicher Typ. Vor allem wusste er die Kinder zu begeistern. Er bezog sie ein, indem er sie zu allem und jedem nach ihrer Meinung fragte. So erreichte er, dass sie sich wichtig fühlten und, ja, auch fast (aber nur fast) erwachsen .
»Also, Kinder, das Spiel geht so. Wir leben alle in einer Demokratie. Wisst ihr, was das ist? Haben eure Eltern euch das erklärt? Wer will antworten? Lass einmal hören, Ottavio.«
»Die Demokratie ist unsere Regierungsform. Das bedeutet, dass wir alle gleich sind und die Pflicht haben, bei den Wahlen wählen zu gehen.«
»Ja, fast. Bravo. Noch jemand? Pierfiliberto!«
»Demokratie bedeutet, dass alle essen wollen und niemand arbeiten mag.«
»Interessant. Ist das auf deinem eigenen Mist gewachsen, Pierfiliberto?«
»Mein Vater sagt das. Er sagt, als es uns schlechter ging, ging es uns besser.«
»Das ist doch sehr eindeutig. Und jetzt erkläre ich euch das Spiel, das wir morgen spielen werden ...«
Der Lehrer holte weit aus. Er begann bei Perikles, dem großen König, der als Erster die Gleichheit aller Bürger verkündet hatte, er sprach über Brutus und Cassius, die Rom vom Tyrannen befreien wollten, über die englischen Barone und ihren Kampf, dem König die Magna Charta abzuringen, über Macchiavelli und die Medici, die Herrscher über das freie und blühende Florenz, überdie Französische Revolution und die Menschenrechte. Dann hielt er kurz inne, musterte die Schüler der Reihe nach und schilderte den Jungen die Kriege, die ihre Vorfahren gefochten hatten, um aus Italien ein freies, geeintes Land zu machen. Davon und noch von manch anderem mehr berichtete Maestro Vito. Und seine Jungen lauschten ihm, gebannt. Dass sie so ganz alles begriffen, könnte man nicht behaupten, zum Beispiel, als es um die Gebrüder Bandiera ging, nach denen ihre Schule benannt war. Maestro Vito zufolge waren sie zwei junge, edle Helden gewesen. Und das überraschte sie ein wenig, denn für die Schüler waren diese beiden bislang nichts anderes gewesen als zwei hässliche Gipsbüsten, bespien, mit in die leeren Augenhöhlen geklebten Kaugummis und von obszönen Schmierereien bedeckt.
Auch wenn sie nicht alles restlos begriffen, so war den Schülern der Fratelli-Bandiera-Schule eines mit Sicherheit klar: Von jetzt an würden sie ihren Klassensprecher selbst wählen. Das war eine wirkliche und wahrhaftige Revolution: Bislang war der Klassensprecher immer vom Klassenlehrer bestimmt worden. Und diese Wahl war seit dem ersten Schuljahr immer und unweigerlich auf Pierfiliberto Berazzi-Perdicò gefallen. Er war der Größte, der Dickste, der Handgreiflichste und, wie sich versteht, der übelste Verleumder von allen. Mit einem Wort, der Schlimmste, und mithin aus der Sicht des alten Lehrers perfekt für diesen Posten geeignet, bestand seine Aufgabe doch darin, die Ordnung mittels Ohrfeigen aufrechtzuerhalten und die Spalte »Schlechtes Betragen« an der Tafel mit mindestens sechs, sieben Namen pro Tagzu füllen, während ein einziger Name pro Woche die Spalte »Gutes Betragen« zierte – sein eigener, was vollauf genügte.
Innerlich jubelten also die Jungs, als ihnen klar war, dass die Stunde der Revolution geschlagen hatte. Und den wenigen, die hartnäckig darauf bestanden, nichts werde sich ändern, erklärte Ottavio, nein, alles werde sich ändern. Keine
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