Richter
willkürlichen Strafen mehr, weder Schikanen noch Tätlichkeiten, keine Stockhiebe mehr für die Gegner, keine gewaltsam abgeknöpften Pfänder. Endlich war die Zeit der Demokratie angebrochen.
»Also stimmen wir alle für dich!«, rief schwungvoll Donato Casati aus, ein kleiner, blonder schmächtiger Mann, Pierfilibertos bevorzugtes Opfer, der ihn gern mit den in wechselnder Reihenfolge, aber immer im Trio daherkommenden Schimpfnamen Weichei, Bettnässer und Brillenschlange belegte.
»Ich oder ein anderer von uns«, meinte Ottavio zurückhaltend, »Hauptsache, nicht er!«
»Du musst es werden!«
Angesichts der kollektiven, überzeugten Anhängerschaft von vierundzwanzig couragierten Gefährten, die er selbst bereits als junge Helden zu sehen bereit war, erlebte Ottavio den ersten wahren Schauer der Eitelkeit seines noch jungen Lebens.
Doch auch Pierfiliberto hatte den Wind der neuen Zeit gewittert. Diese jämmerlichen Bettnässer, Weicheier und Brillenschlangen wollten sich gegen ihn verschwören. Er würde die Macht verlieren, und keiner hätte mehr Angst vor ihm. Keiner würde ihm mehr die Hausaufgabenerledigen aus Furcht vor Vergeltung, falls er sich weigern sollte. Adieu, Trikot des Mittelstürmers bei den Fußballspielen am Wochenende: Alle würden laut herausschreien, was allgemein bekannt war und doch keiner offen zu sagen wagte, nämlich dass Pierfiliberto ein lausiger Spieler war. Die Katastrophe drohte unmittelbar. Und sein größter Gegner, Ottavio, der Einzige, der nie Angst hatte, sich ihm entgegenzustellen, der die Stockhiebe stoisch einkassierte, mit einem unerträglich höhnischen Lächeln, ausgerechnet Ottavio würde triumphieren.
Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
Und es würde nicht sein. Diese Hosenscheißer hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Pierfiliberto wusste nicht, was er verdammt noch mal genau bedeutete, dieser Ausdruck: Sein Vater hatte ihn zwei-, dreimal bei historischen Gelegenheiten benutzt, am Höhepunkt häuslicher Auseinandersetzungen. Dies war der Satz, der seine Mutter zum Schweigen brachte und die familiäre Harmonie wiederherstellte. Wenn er zu Hause funktionierte, musste er das in der Schule doch auch tun. Pierfiliberto war nicht der Typ, der ohne Gegenwehr klein beigab. Bis zur Wahl waren es noch vierundzwanzig Stunden. Maestro Vito hatte einen schweren Fehler begangen. Er hatte ihm Zeit gegeben, den Gegenschlag vorzubereiten. Hätten sie sofort gewählt, mit dem ganzen Gefühlsüberschwang nach den Geschichten über Perikles und diese ganzen alten Idioten, dann wäre sein Schicksal besiegelt gewesen. Aber Maestro Vito hatte sich getäuscht.
Eine Idee musste her.
Und sie kam ihm in der Nacht.
Am Morgen der Wahl nahm Ottavio sofort eine merkwürdige Stimmung wahr. Donato Casati, gestern sein glühendster Unterstützer, drückte sich gesenkten Blicks an ihm vorbei, um seinen Zettel in die von Maestro Vito bereitgestellte Urne zu stecken. Pierfiliberto hingegen hatte mit demonstrativer Selbstsicherheit gewählt, umringt von drei oder vier derer, die Ottavio gestern noch ewige Treue gelobt hatten. Als der Lehrer das Ergebnis bekannt gab, legte sich schuldbewusstes Schweigen auf die Klasse.
»Berazzi-Perdicò, fünfundzwanzig Stimmen. Mandati, eine Stimme. Ich erkläre Pierfiliberto Berazzi-Perdicò zum Klassensprecher für dieses Schuljahr.«
Ottavio verschwamm alles vor den Augen. Er musste mit aller Kraft, die er im Leib hatte, die Tränen niederkämpfen, die mit Gewalt herauswollten. Nein, nur das nicht. Vor Pierfiliberto weinen, niemals! Vor lauter Anstrengung übersah er die zu schmerzlichem Lächeln verzogenen Münder der Abtrünnigen, die ihm nacheinander einen Klaps auf die Schultern gaben. Auch das unverstellt feindselige Grinsen entging ihm, ebenso wie der etwas verbitterte Tonfall, mit dem der Lehrer das Ergebnis kommentierte.
»Kompliment. Heute habt ihr alle ein schönes Beispiel für demokratisches Verhalten gegeben.«
Auf dem Heimweg nach der Schule enthüllte Donato Casati ihm den Schwindel. Eigentlich wollte Ottavio am liebsten nichts davon hören, doch am Ende siegte die Neugier.
Wie es zugegangen war? Ganz einfach. Pierfiliberto hatte die Stimmen gekauft. Eine nach der anderen. Die Preise: Sammelexemplare von Comics, darunter auch mehrere besonders begehrte. Tex Avery als Strip, Capitan Miki und Blek Macigno , und die grellbunten Intrepido -Hefte. Dazu Kaugummis, neue Hefte und seltene Panini -Figuren, sogar welche, die im
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