Richter
verteidigte er sich schwach: »Ich tu das doch auch für dich, es ist nicht in Ordnung, dass unser Sohn uns aus seinem Leben ausschließt.« Ihren mitleidsvollen Blick würde er nie vergessen.
»Also, Papa, was ist los?«
Wie an so vielen anderen Morgen kam Lucio gerade erst nach Hause. Von einem Konzert, von einer Liebelei, wer weiß woher. Lucio durfte keinesfalls erfahren, was vorging, auch wenn es nur ein Traum gewesen war. Ratlos befragte der Staatsanwalt seine Schutzengel. Sie nickten.
»Nichts, etwas Unvorhergesehenes. Geh schlafen, du hast ziemliche Augenringe!«
Frohgemut setzte sich der Staatsanwalt, der seinen eigenen Haftbefehl ausgestellt hatte, auf den Rücksitz der alten gepanzerten Alfetta, bibbernd vor Kälte in dem dünnen, mit dem beschneiten Fujiyama bedruckten Kimono, den er in aller Eile über den traditionellen gestreiften Schlafanzug gezogen hatte. Pistola setzte sich ans Steuer, Bardolfo neben ihn. Hustend setzte sich die Alfetta in Bewegung, begleitet von Unheil verkündendemmetallischem Scheppern. Seit einem halben Jahr überwies das Ministerium keine Sachmittel mehr, und Mandati zahlte das Benzin aus eigener Tasche. Kimono und Schlafanzug waren Geschenke von Teresa. Der Kimono ein Andenken an eine spätpubertäre Reise ins Land der aufgehenden Sonne, der Schlafanzug an einen prosaischeren Ausflug in ein Outlet am Luganer See. Zwei inzwischen verschlissene und durchaus nicht mehr gesellschaftsfähige Kleidungsstücke, an denen Ottavio Mandati krankhaft hing, erinnerten sie ihn doch an die herbe Zuneigung seiner Gattin und an die vielen zarten gemeinsam erlebten Momente. Und natürlich auch an das genervte Glimmen in ihren tiefschwarzen Augen, das unweigerlich zu ihren nicht enden wollenden Diskussionen gehörte. Außerdem, wer würde sich je in Pyjama und Kimono in der Gesellschaft zeigen, falls man es so nennen konnte, wenn nicht die Hauptfigur eines Traums?
Draußen huschten unterdessen, von einem kuriosen gelblichen Schimmer umgeben – lag der an den schwachen Straßenlaternen oder an den schmutzigen Scheiben? –, die Silhouetten der Wohnblöcke der Zona Pep vorbei. Das städtebauliche Opus magnum des Herrn Bürgermeister. Sein größter Betrug. Die Mutter allen Amtsmissbrauchs. Dreihundertsiebenundzwanzig in einer einzigen Nacht erteilte Baugenehmigungen, und sämtlich stellten sie Abweichungen vom Flächennutzungsplan dar. Bauherren waren fünfzehn Gesellschaften mit anmutigen Namen wie Blühende Wiesen , Schimmerndes Morgengrauen , Zauberhafte Quelle oder BlauerHorizont . Inhaber: ebenso viele Strohmänner des Herrn Bürgermeister.
Eines Morgens hatten die Bagger ein für alle Mal die alte Grundschule plattgemacht, dazu die historische Parkanlage mit den Sitzbänken und dem Ehrenmal für die »in den Kriegen für die Freiheit des Vaterlandes« Gefallenen von Novere. Nicht eine einzige der achtundvierzig großen, Schatten spendenden Platanen blieb verschont. Ottavio, seinerzeit als junger Assistent des Staatsanwalts beschäftigt, stellte sich so seine Fragen und leitete ein Verfahren ein. Oberstaatsanwalt Smilzi-Trionfi bestellte ihn augenblicklich zu sich.
»Die Menschen von Novere brauchen Wohnraum für sich und ihre Kinder, Mandati. Können Sie mir mal erklären, was wir, das Gesetz, dagegen haben sollten? Bitte? Durchsuchungen? Verhaftungen? Kommt gar nicht infrage!«
Smilzi-Trionfi zog den Fall an sich und beerdigte ihn umgehend und schmerzlos im Archiv. Schwamm drüber.
»Also mit was für einem Genuss du deine Misserfolge immer wieder aufwärmst, das ist doch krankhaft«, warf Teresa ihm vor.
Das vor sich hin köchelnde Selbstmitleid führte zu nichts als Verbitterung.
Ohne anzuhalten fuhren sie am Gefängnis vorbei. Mandati erkundigte sich bei seinen beiden Schutzengeln nach dem Grund, sie zuckten mit den Schultern. Warum nicht ohne Umwege gleich dorthin? Na ja, auch in diesem Fall musste man wohl erst einmal die Verhaftungzu Protokoll geben. Ein Traum voller Formfehler, vermerkte der Staatsanwalt mit einem Anflug von Ironie.
Vor dem Gerichtsgebäude wartete eine kleine Menschenmenge im morgendlich diffusen Licht. Verfrühte Trupps von Schwalben schossen durch die Luft. Ein sonniger Tag kündigte sich an. Mandati sah die vertrauten Gesichter einiger Mörder, Diebe und Vergewaltiger, deren Verurteilung er beantragt und nicht immer erreicht hatte. Stumm und gemessen warteten sie darauf, dass er aus der Alfetta stieg, dazu andere, ebenso vertraute Gesichter: die
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