Richter
Geschädigten, in deren Namen er die Gerechtigkeit beantragt und nicht immer erreicht hatte. Er erkannte die Witwe Schirinzi. Ihr Mann war als junger, einfacher Arbeiter wegen der Missachtung der grundlegendsten Sicherheitsmaßnahmen seitens eines verbrecherischen Arbeitgebers umgekommen. Auch der kleine Teodori war da, in seinen Rollstuhl gekauert. Als er dreizehn war, hatte ihn ein Vertreter der Jeunesse dorée von Novere überfahren, bei einem nächtlichen Wettrennen mit ausgeschalteten Scheinwerfern, das den würdigen Abschluss einer Feier mit Whisky, Titten und Koks bilden sollte. Ein mitleidsvolles Gutachten hatte im Berufungsverfahren die Dinge auf den Kopf gestellt: Was hatte sich der Junge nur dabei gedacht, einfach so über die Straße zu rennen und einem wackeren jungen Mann, der arglos daherfuhr, den Weg abzuschneiden? Wie bitte? Er wollte den letzten Schulbus nicht verpassen? Sein Problem! Sollte er doch früher aufstehen!
Bardolfo und Pistola nahmen den Staatsanwalt in ihre Mitte. Die kleine Ansammlung wartete, dass sie dieTreppe erklommen hatten, dann folgte sie ihnen diszipliniert. Mandati drehte sich um. Vergebens suchte er einen Gesichtsausdruck zu erkennen: Ressentiment, Enttäuschung, Rachsucht. Nichts. Diese versteinerten Gesichter drückten nichts aus als eine allgemeine, kalte Gleichgültigkeit.
Plötzlich erhob sich von diesen undurchdringlichen Mienen ein Unheil verkündendes Gemurmel. Mandati versuchte, den Sinn dieser Laute zu erfassen. Wie konnten sie sprechen, so mit geschlossenen Mündern? Was zum Teufel wollten sie ihm sagen? La... Lasst ... Ah ja: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren ...
Zum ersten Mal seit Beginn seines Traumes verspürte Staatsanwalt Ottavio Mandati Angst.
Und die Angst steigerte sich zu Entsetzen, als er in der Anklagebank Platz genommen hatte und die unverwechselbare Gestalt des Herrn Bürgermeisters, Pierfiliberto Berazzi-Perdicò, auftauchen sah. Er trug den schwarzen Talar und die Goldschnüre des Ermittlers. So wurde der Staatsanwalt, der sich selbst hatte verhaften lassen, zum Angeklagten seines Angeklagten.
2.
E skortiert von den getreuen Bardolfo und Pistola traf Staatsanwalt Mandati am 18. März pünktlich um neun Uhr morgens vor dem Gerichtsgebäude ein. Es war ein regnerischer Montag mit feuchtkaltem Wind. Ein mieser Tag. Das Klima war in dieser Gegend auch sonst nicht besonders. Pierfiliberto Berazzi-Perdicò hatte zu seiner Verschlechterung beigetragen, indem er dafür sorgte, dass der kleine Lärchenhain abgeholzt wurde, der die winterliche Kälte ebenso milderte wie die schwülheißen Sommer. Aber der hinreißende Wohnkomplex »Goldener Hügel« sollte der Wirtschaft der Gegend einen Schub geben und zudem jenen Qualitätstourismus anziehen, den Novere verdiente – wen scherten da ein paar struppige alte Bäume?
»Na, Dottore Mandati, immer noch nicht müde, unserem Bürgermeister nachzustellen?«
Tafano Tafàni, Chefreporter von Telenovere , erwartete ihn am Fuße der Treppe mitsamt seinem tätowierten Assistenten, das Mikro im Anschlag wie eine Eistüte, während fünf, sechs Laufburschen minderen Kalibers in respektvoller Entfernung mit ihren Digitalrekorderchen ausharrten, bereit, jedwede Bemerkung einzufangen.
Im Laufe der Jahre hatte Ottavio sich an die Beachtung gewisser Regeln gewöhnt. Erstens: Nie mit einem feindlich gesinnten Journalisten reden. Zweitens: Nie die Ruhe verlieren. So widmete er dem Reporter, der sich selbst gern die »Stimme des freien Novere« nannte, ein gewinnendes Lächeln und versuchte, ihn mit einem geschickten Slalomschwung zu umgehen. Aber Tafàni heftete sich ihm an die Fersen.
»Wollen Sie nicht mit der freien Presse reden, Herr Staatsanwalt? Wissen Sie, dass Bürgermeister Berazzi-Perdicò der letzten Umfrage zufolge das Vertrauen von fünfundsiebzig Prozent unserer Mitbürger genießt? Ist Ihnen klar, dass ...«
Mit gebieterischer Geste bremste Ottavio Bardolfo und Pistola, die nur zu gern ihre in der alten Sporthalle von Rosignano Marittimo erworbenen Boxkünste an Tafàni aufgefrischt hätten, erklomm die vierzehn ausgetretenen Marmorstufen und trat über die Schwelle des Gerichtsgebäudes. Ein beeindruckender Aufzug mit ihm ganz vorne, der sich bemühte, nicht zuzuhören, Tafàni, der sich bemühte, sich Gehör zu verschaffen, den beiden Carabinieri, die sich bemühten, diesen nicht zu verdreschen, und den Laufburschen, die sich bemühten, ihre Arbeit als Laufburschen zu tun. Und in der Tat
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