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Richter

Richter

Titel: Richter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Ciancarlo de u Lucarelli Andrea u Cataldo Cammilleri
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die Idioten setzen sich Grenzen. Wir Herausragenden haben die Pflicht, groß zu denken.«
    Tja. Jedes Mal, wenn er an diese Zeit zurückdenkt, verspürtOttavio eine Mischung aus Verlegenheit, Scham, Wut. Pierfiliberto war ihm nämlich nach all den Jahren verändert vorgekommen. Er hatte die Kantigkeit und Aggressivität des Jugendlichen abgelegt, und es war ihm gelungen, seine natürliche Gier in eine Art messianische Kraft umzuwandeln. Größer und schlanker war er geworden. Er konnte im Mittelpunkt stehen. Und die Leute verehrten ihn. Er präsentierte eine Freundin mit altehrwürdigem Namen, eine halbe Contessa mit großem Grundbesitz, und er erklärte, er sei bereit sich aufzureiben, um dem verschlafenen Novere einen Schub zu verpassen. Unablässig und aufdringlich beschwor er den Wandel, hinter seinen Worten war eine rebellische Kraft zu spüren, mit der man ihm tatsächlich zutraute, alles zu erreichen. Zu der Zeit waren Ottavios Gewissheiten ohnehin ins Wanken geraten. Der politische Glaube, der naive politische Glaube, den er all die Jahre auf der Uni hochgehalten hatte, erlitt angesichts der stumpfsinnigen Bomben der Terroristen Schiffbruch. Und Teresa reagierte derart verstockt auf all seine Annäherungsversuche ... Kurz, er war ihm glatt auf den Leim gegangen, und sie begannen, einander häufiger zu sehen. Pierfiliberto machte seine ersten Schritte im Bereich der Immobilienspekulation und begann ein gewisses Interesse an der Politik zu fassen.
    Ein diskretes Hüsteln seitens Bardolfos und Pistolas rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Blinzelnd versuchte er, die Szene klar zu sehen. Die beiden Carabinieri, die ihn verwundert anschauten. Pierfiliberto, der ihn tief im Sessel sitzend mit gerunzelter Stirne musterte.
    »Leidest du etwa unter Narkolepsie, Ottá? Seit zehn Minuten bist du ganz woanders ... Hör mal, wenn du da ein Problem haben solltest, ich kenne die besten Spezialisten.«
    »Bitte schildern Sie mir das Vorgefallene möglichst detailliert«, zischte er und versuchte, sich zusammenzureißen.
    Einen neutralen, professionellen Tonfall zu wahren, kostete ihn unendliche Mühe.

6.
    D rei Tage nach dem Attentat, während Bardolfo, Pistola, sechzehn Carabinieri und vierundzwanzig Polizisten und ein paar Offiziere alle nur möglichen Spuren verfolgten, saß Pierfiliberto Berazzi-Perdicò an seinem Schreibtisch, sah die vielen Solidaritätsadressen durch, die ihn von hochgestellten Persönlichkeiten und einfachen Bürgern erreicht hatten, und verspürte unvermittelt Lust auf ein Cannolo. Seine getreue Sekretärin, eine Frau von sprichwörtlicher Unentbehrlichkeit und amtlich attestierter Hässlichkeit (hübsche Frauen haben es nicht nötig zu arbeiten, und die hässlichen arbeiten uns zu, pflegte der Bürgermeister anzumerken), brauchte bloß zwanzig Minuten, um aus der bekannten Pasticceria Turiddu am Corso Vittorio Emanuele III . eine Schachtel mit diesen sizilianischen Gebäckteilchen zu beschaffen. Es war ein sonniger Tag. Die Fenster standen weit offen. Voller Vorfreude auf die dicke, mit Schokoladensplittern durchsetzte Ricottacreme in den Teigröllchen wickelte Pierfiliberto das Paket aus. Eine hungrige Taube, offenbar bereits seit Längerem auf der Lauer, landete im Sturzflug auf dem Schreibtisch und bohrte den Schnabel in ein Cannolo. Völlig überrascht konnte derBürgermeister eine angewiderte Geste nicht unterdrücken. Dann nahm er einen Briefbeschwerer und warf damit nach dem Vogel, verfehlte das Ziel jedoch. Die Taube riss unbeeindruckt ein beträchtliches Stück Blätterteig ab und begann daran herumzupicken. Pierfiliberto rief um Hilfe. Die Sekretärin eilte hinzu. Die Taube ließ von der Schachtel ab, warf einen blöde-verzweifelten Blick in die Runde, gab ein kurioses Geräusch von sich, halb Schluchzen, halb Rülpser, drehte sich einmal um sich selbst und stürzte zu Boden. Zwei Stunden später hatten die Kollegen von der Gerichtsmedizin das Ergebnis: In diesem Cannolo war Strychnin, und zwar genug, um den gesamten Stadtrat ins Jenseits zu befördern.
    Später – er hatte gerade alle Hände voll mit Anrufen zu tun (alle meldeten sich, Minister, nationale und internationale Presse, Kollegen, Bürger) – erschienen auf einmal Teresa und Lucio im Büro von Staatsanwalt Ottavio Mandati, blass und erschüttert.
    »Ich bin heute in der Schule tätlich angegriffen worden.«
    »Wie denn das? Und warum?«
    »Die Leute sagen, du unternimmst nichts, um die Mörder zu finden. Sie denken, du

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