Rico, Oskar und das Herzgebreche
Foto von der geliebten Hannah genauer anzusehen. Es stand auf der Kommode, zwischen zwei niedrigen Vasen mit frischen bunten Blümchen. Die Hannah lächelte auf dem Foto, als gäbe es für sie und für überhaupt alle Menschen nur Glück und kein groÃes Vergessen, als lebten wir alle in einer Welt ohne Löcher im Kopf.
»Ja, meine Hannah«, sagte Herr van Scherten, und Oskar setzte die Sonnenbrille sofort wieder auf. »Ich guck jeden Tag zu ihr rüber, mehr als einmal.« Er winkte uns mit einer Hand zum groÃen Wohnzimmerfenster und zeigte nach drauÃen. »Sie liegt da drüben, links hinter der hohen Kuppe, wo man den groÃen Engel sehen kann. Hätte sie gern richtig im Blick, aber näher am Haus war nichts zu holen.«
Vom Fenster aus hatten wir eine tolle Aussicht über einen riesigen, leicht hügelan führenden Friedhof. Es wirkte fast wie ein Park â aber eben nur fast. Man sah hohe Bäume und mit Efeu überwachsene Grabstellen und Kreuze, grauweiÃe Statuen von Engeln und dergleichen. Auf einem frischen Grab, ein Stück weiter weg, lagen ein paar traurige Blumenkränze.
Sonne fiel ins Fenster und brachte Herrn van Schertens Glatze zum Spiegeln. »Der Luisenstädtische«, erklärte er. »Schöner alter Laden, verfallende Mausoleen, zum Teil noch Jugendstil und Art déco, im hinteren Bereich. Noch nie dort gewesen, Rico?«
Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte ich nur den letzten Satz richtig verstanden.
MAUSOLEUM : Ein Grab, das aussieht wie ein kleines Eigenheim. Es wurde nach dem persischen König Mausolos benannt, der als Erster in so was einzog, als er tot war. Hat also nichts mit Mäusen zu tun, aber Jugendstil hat ja auch nichts mit Jugend zu tun, sondern mit Kunst, genau wie Art déco, vor allem im hinteren Bereich.
So hübsch die Aussicht war oder der Gedanke, dass man eine geliebte Hannah bei sich in der Nähe hatte â ich fandâs doch ein bisschen gruselig, direkt neben einem Friedhof zu wohnen, wegen Zombies und dergleichen. Ich glaube zwar nicht an so einen Quatsch, aber das heiÃt ja nicht, dass Zombies nicht trotzdem existieren. Sie beiÃen Stücke aus einem raus und schlucken sie runter, ohne zu kauen, das ist eine riesige Schweinerei. AuÃerdem ist es schlecht für die Verdauung, wenn man nicht ordentlich kaut, aber den Zombies ist das egal, denn sie sind ja schon tot, und womöglich wären sie sogar ganz nett, wenn sie nicht ständig Hunger hätten.
Herr van Scherten lächelte ein wenig, als er zu der hohen Kuppe mit dem groÃen Engel darauf und der beerdigten Hannah dahinter guckte. Es sah nicht wirklich traurig aus, aber bestimmt dachte er an den Tag, an dem er neben seiner Frau liegen würde. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete,seufzte er leise und verwuschelte mir mit einer Hand die Haare. Er ging zum Tisch und begann die Gläser zu füllen. Â
»So, nun setzt euch aber endlich, Jungs«, forderte er uns auf. »Ich muss sagen, ihr habt mich wirklich neugierig gemacht mit eurem Anruf. Also â worum gehtâs?«
Es ist schwierig, um den Ludwigkirchplatz herum einen Parkplatz zu finden, aber Herr van Scherten fuhr geduldig so lange im Kreis, bis endlich einer frei wurde, nur zwei Häuser von dem der fürchterlichen Ellie entfernt.
Am liebsten hätte ich ihn auf die Glatze geknutscht. Ich hatte Oskar die Erklärung wegen den falschen Bingokärtchen und den echten Handtaschen überlassen, weil das schneller ging â ich war so aufgeregt wegen Mama, dass ich mich bloà ständig verhaspelt hätte. Herr van Scherten hatte geduldig zugehört, erst ungläubig, aber dann immer gläubiger. Immer wieder hatte er genickt, auÃer als Oskar ihn fragte, ob er denn nicht mitbekommen hätte, wie Mama ihr Kärtchen gefälscht hatte, schlieÃlich habe er sie doch den ganzen Abend angestarrt.
»Ja, aber doch nicht ihr Kärtchen!«, hatte Herr van Scherten verlegen gesagt und dann schnell hinzugefügt, wie sehr erMama verehre und wie sehr er sie dafür bewundere, dass sie aus mir so ein prächtiges Kerlchen gemacht hatte. Er sagte auch, dass er alles tun würde, um ihr zu helfen, und das tat er jetzt â genau so, wie ich es gehofft hatte, als mir eingefallen war, dass ich auÃer dem Kiesling und Irina doch noch jemanden im Kiez mit einem Auto kannte.
Während wir das Haus von
Weitere Kostenlose Bücher