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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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ihr Gesicht in meiner Schulter. Ihre Haare rochen nach einer Mischung aus Shampoo und dem Club. Sie drückte mich so fest an sich, dass ich kaum noch Luft kriegte. So ähnlich musste Mollie Eins sich damals gefühlt haben, kurz vor dem Knacks.
    Als ich es kaum noch aushielt, ließ sie mich endlich los. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich mach´s wieder gut, Schatz, das verspreche ich dir«, schniefte sie. »Nur im Moment -«
    »Ist schon in Ordnung.«
    »Du musst dich ein paar Tage um dich selber kümmern. Das schaffst du, mein Großer, oder?«
    »Klar.«
    »Ich lass dir Geld hier, und wenn irgendwas ist, wendest du dich an Frau Dahling, ja? Ich versuche noch, sie bei Karstadt anzurufen, vielleicht kriege ich sie ans Telefon.«
    »Lass mal. Ich geh heute Abend zu ihr und sags ihr selber.«
    »Okay. Du kannst mich außerdem jederzeit auf dem Handy erreichen.« Sie fasste mich bei den Schultern, schob mich ein winziges Stückchen von sich und sah mir ins Gesicht. »Ich liebe dich über alles! Das weißt du doch?«
    Eigentlich wollte ich mich entschuldigen und ihr sagen, dass ich nicht hatte sagen wollen, was ich gesagt hatte, aber auf einmal war ich völlig durcheinander. Mir war etwas so Schreckliches eingefallen, dass nicht mal mehr die Bingokugeln in meinem Kopf funktionierten. Sie klackerten nur noch einmal kurz, und dann lagen sie alle ganz still, wie festgefroren. Der schreckliche Gedanke war der: Wenn Mamas Bruder Krebs hatte, kriegte sie vielleicht auch welchen, weil sie sich bei ihm — »Rico?«
    »Hm?« Mir liefen Tränen die Backen runter und Rotze aus der Nase und ich hatte kein Taschentuch.
    »Krebs ist nicht ansteckend. Hörst du?«
    Ich schnaubte nur irgendwas.
    »Du musst dir keine Sorgen um mich machen.«
    Ich schnaubte noch mal, fühlte mich aber gleich besser. Mama lügt mich nie an. Sie hob eine Hand und wischte mir mit dem Ärmel vom Morgenmantel über das Gesicht. Endlich war ein Lächeln um ihren Mund, wenn auch nur so dünn wie Butterbrotpapier.
    »Christians Anruf kam sehr früh heute Morgen«, erklärte sie. »Danach konnte ich erst nicht einschlafen und dann hab ich verpennt, und der Zug geht schon um halb drei. Schätzchen, ich wünschte, ich könnte was tun wegen deinem kleinen Motorradfahrer, aber ich muss noch packen, duschen, mich zurechtmachen, am Bahnhof ein Ticket kaufen ...«
    »Mach mal«, sagte ich.
    Ich sah ihr nach, wie sie aus der Küche stolperte, an ihrem Schlafzimmer vorbei. Die Tür stand offen, ich konnte ihr Himmelbett mit der schicken Glitzerbettwäsche sehen und die Poster an den Wänden mit den Delfinen und den Walen drauf.
    Langsam beruhigte ich mich. Mama kriegte keinen Krebs, zum Bingo gingen wir halt nächsten Dienstag, und Oskar würde schon noch irgendwann auftauchen. Mir fiel ein, dass er gesagt hatte, er habe heute eigentlich was Wichtiges vor. Vielleicht war das Wichtige doch wichtiger als ein Spaziergang am Landwehrkanal und er schneite später herein. Und selbst wenn er erst morgen oder übermorgen kam, gab es einen Lichtblick: Frau Dahling würde heute Abend sicher Müffelchen für mich machen und wir würden zusammen fernsehen, obwohl kein Wochenende war! Wenn ich sie zu einem Film mit Miss Marple überreden konnte, war das fast so gut wie Bingospielen. Zum Bingospielen selber würde ich sie nicht überreden können. Frau Dahling findet, dass das nur was für alte Knacker ist, die sich die Hosen bis unter die Achseln hochziehen.
    Eben war das Leben noch dunkler gewesen als der dunkelste Tieferschatten. Jetzt war es auf einmal wieder voller großartiger Möglichkeiten. Ganz kurz hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass Onkel Christian mir nicht leidtat, aber er hätte ja damals bei dem Streit mit Mama nicht so rumbrüllen müssen. Vor lauter Angst hatte ich mich unter dem Bett versteckt, und dort hatte ich Mollie Zwei gefunden. Sie lag ganz hinten unten in einem alten kleinen Turnschuh, der mir längst nicht mehr passte. Vielleicht hatte sie dort andere Hamster gesucht.
    Der Turnschuh hatte furchtbar gestunken.

    Um kurz nach zwei bestellte Mama sich ein Taxi. Ich begleitete sie nach unten. Der Fahrer verstaute ihre große Reisetasche im Kofferraum, Mama warf mir vom Rücksitz aus noch eine Kusshand zu, dann fuhr sie davon. Ich winkte ihr nach. Fast bildete ich mir ein, die schwarze traurige Regenwolke hinter dem Taxi herschweben zu sehen.
    Ich ging wieder rauf und setzte mich noch eine Weile in den Nachdenksessel. Ich wusste nicht, was

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