Rico, Oskar und die Tieferschatten
irgendwo in der Nähe geparkten Auto. Aber das war's auch schon.
Kein Sturzhelm weit und breit.
Kein kleines Blau.
Kein Oskar.
Ich schlappte zu Mama in die Küche, mit so viel schlechter Laune in mir drin, dass ich mich schwer und traurig fühlte wie ein Elefant. Elefanten gehen zum Sterben in den Dschungel. Sie gehen zu einer Stelle, wo vor ihnen schon andere Elefanten gestorben sind, vor denen schon andere Elefanten gestorben sind, die unbedingt bei anderen toten Elefanten sterben wollten. Es ist ein riesiger Friedhof.
Unsere Küche war zwar kein Friedhof, aber irgendwo musste ich ja hin. Ich setzte mich an den Tisch und beschwerte mich über mein Unglück. Mama goss sich einen Kaffee ein und setzte sich mir gegenüber.
»Er hat dich versetzt, hm?«
Ich war mir nicht sicher, was das hieß. Mit meiner Versetzung war alles in Ordnung, nach den Sommerferien war ich im Förderzentrum eine Klasse weiter. Oskar hatte damit nichts zu tun gehabt, das konnte das Wort also nicht bedeuten. Anstatt etwas zu sagen, nickte ich nur schnell. Manchmal ist es mir Mama gegenüber peinlich, dass ich so schwer von Begriff bin.
»Nun, wie es aussieht, haben wir heute beide keinen guten Start«, fuhr sie fort. »Ich muss für zwei, vielleicht auch drei Tage weg.«
Dann kein Pieps mehr. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Vielleicht hatte sie schlecht geschlafen. Ich sah sie abwartend an. Sie sah mich abwartend an. Sie nippte an ihrem Kaffee. Schließlich seufzte sie.
»Verstehst du, Schatz? Ich fahre schon heute Nachmittag. Das bedeutet, dass Bingo heute Abend für uns ausfällt.«
Das bedeutete ... was?!
»Tut mir leid, Rico! Ich weiß, wie sehr du dich darauf gefreut hast.«
Na toll, auch das noch! Wahrscheinlich wollte sie mit Irina alle Friseure der Stadt besuchen, um sich neue Stiche ins Haar machen zu lassen. Aber bitte - ich war es ja gewohnt, allein gelassen und versetzt zu werden! Eines Tages würde Mama nach Hause kommen, nach einem Wasserrohrbruch oder dergleichen, und ich läge ertrunken im Flur, neben einem Brief, in dem stand, dass ich sitzengeblieben war. Geschähe ihr recht!
»Wo musst du denn hin?«, sagte ich mürrisch.
»Du erinnerst dich an Onkel Christian?«
Nur verschwommen, und gar nicht gern. Onkel Christian ist Mamas älterer Bruder, er lebt irgendwo in Deutschland ganz unten links. Vor ein paar Jahren, als wir noch in Neukölln wohnten, hatte er uns mal in Berlin besucht. Damals hatten er und Mama sich dermaßen gestritten, dass ich mich in meinem Zimmer unterm Bett verstecken musste. Am selben Tag war er wieder abgereist. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie er aussah oder wie seine Stimme klang.
»Der Doofe?«, sagte ich. »Was ist mit dem?«
»Es geht ihm nicht gut. Ich muss zu ihm.«
»Warum? Was hat er denn?«
»Krebs.«
Jeder weiß, was Krebs ist, sogar Forrest Gump. Wenn Mama ein schlimmes Wort so ausspricht, als wäre nichts weiter dabei, dann geht es ihr nicht gut. Sie sagte Krebs so fröhlich. wie Frau Dahling an der Fleischtheke fragte, darf es auch ein Kilo mehr sein?
»Muss er sterben?«, fragte ich zögernd.
»Ja. Vielleicht.«
Wer weiß, wie lange sie mit dem Zug unterwegs sein würde. Onkel Christian konnte längst tot sein, bis sie bei ihm ankam, dann wäre das Bingospielen völlig umsonst ausgefallen.
»Heute schon?«, sagte ich.
»Herrgott noch mal!«, schrie Mama mich urplötzlich an. »Kannst du deinen verdammten Egoismus vielleicht ein Mal abschalten?«
Mama goss sich Kaffee nach, ohne mich dabei anzusehen. Sie nahm einen Schluck aus der Tasse. Sie begann zu schluchzen. Es war, als würde sich eine Regenwolke zu uns in die Küche quetschen. Ich kann es überhaupt nicht ertragen, wenn Mama weint. Die Welt wird dann so dunkel, als hätte der liebe Gott das Licht ausgeknipst.
Eigentlich hätte mir viel früher auffallen müssen, dass mit ihr etwas nicht stimmte, weil sogar der japanische Morgenmantel traurig an ihr runterhing. Garantiert bedeuteten die Schriftzeichen Das Leben ist nur ein Abreißkalender! Aber anstatt an Mama zu denken, war ich nur mit meinem eigenen Unglück beschäftigt gewesen. Als ich sie jetzt weinen sah, bereute ich, dass ich das eben mit dem Wasserrohrbruch gedacht hatte. Eine versetzte Verabredung und ein geplatzter Bingoabend sind nicht so schlimm wie ein sterbender Bruder, auch wenn man den nicht leiden kann. Mamas Unglück war größer als meins.
Ich stand auf, ging um den Tisch herum zu ihr und nahm sie in den Arm. Mama vergrub
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