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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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einschlafen. Und ich muss einen Plan entwickeln.
    Wenn ich doch nur schneller denken könnte.
    Frau Dahling weiß von nichts.
    Wenn ich Mama anrufe, mache ich ihr bloß Sorgen.
    Ich bin ganz auf mich allein gestellt.
    Ich habe große Ängste.
    Um kurz vor halb acht ging ich nach oben. Ich wollte die Abendschau nicht verpassen. Na gut, eigentlich wollte ich

    die Müffelchen nicht verpassen, aber das mit der Abendschau klingt nicht so verfressen.
    Ich drückte auf Frau Dahlings Klingel. Keine Antwort. Ich legte ein Ohr an die Tür und lauschte. Nichts. Dann fiel s mir ein: Weil Frau Dahling und ich uns fast ausschließlich an Samstagen sehen, wenn sie freihat, hatte ich völlig vergessen, dass sie unter der Woche bis acht arbeitet. Sie konnte noch gar nicht zu Hause sein. Wahrscheinlich stand sie genau in diesem Moment noch hinter der Fleischtheke und schlachtete die letzten Schnitzel. Manchmal bin ich so ein Depp!
    Im Stockwerk über mir kruspelte jemand auf der Treppe rum. Ein fröhliches kleines Pfeifen erklang. Von Fitzke konnte es nicht kommen, der ist garantiert der unfröhlichste Mensch auf unserem Planeten. Eine Tür fiel zu. Dann Stille.
    Ich also rauf in den Vierten. Auf dem Treppenabsatz stand ein voller blauer Müllsack. Tapetenstreifen guckten raus und mit Farbresten bekleckerte Plastikfolie, rot und gelb und orange. Wenn das mal kein glücklicher Zufall war! Der Bühl war zu Hause, und ich hatte eine halbe Stunde Zeit. Wenn ich es geschickt anstellte, würde er mich bestimmt in seine Wohnung lassen.
    Als ich klingelte, öffnete er sofort, mit seinen schönen weißen Zähnen und den schwarzen Haaren und der Narbe am Kinn. Er sah mich erstaunt an. Fast besorgt.
    »Rico! Ist was passiert?«
    Warum fragen so viele Leute, wenn ein Kind bei ihnen klingelt, immer gleich, ob was passiert ist?
    Ich schüttelte den Kopf und streckte eine Hand aus. »Guten Abend! Mein Name ist Frederico Doretti. Ich bin -« »Ehm ... Ich weiß, wie du heißt.«
    Als hätte ich nicht geahnt, dass er mir dazwischenquatschen würde! Manche Leute können nicht mal für zehn Sekunden den Mund halten, und das hier war fast so schwierig wie das mit dem Sicherheitsmanagement mit Schwerpunkt Kontroll- und Schließdienst. Irgendwo in meinem Kopf legte sich wie von selbst ein kleiner Schalter um und startete die Bingomaschine. Mir wurde unangenehm warm. Ich ließ die Hand sinken. Schütteln musste ausfallen. Man kann sich schließlich nicht auf alles gleichzeitig konzentrieren, und bisher hatte immer Mama den Spruch für mich aufgesagt.
    »Mein Name ist Frederico Doretti!«, wiederholte ich laut. »Ich bin ein tiefbegabtes Kind! Deshalb kann ich zum Beispiel nur geradeaus laufen und sehe nur wenig von der Welt!« Ich wurde immer schneller. »Zum Ausgleich guck ich mir gern Wohnungen von anderen Leuten andarfichreinkommen?«
    Herzlichen Glückwunsch, Rico! Am liebsten wäre ich herumgewirbelt und weggelaufen. Wenn man zehn Sekunden vorher wüsste, für wie blöd man sich selber zehn Sekunden später hält, würde man bestimmt einiges nicht tun oder sagen, was man tut oder sagt. Aber nun war es eben passiert.
    »Tiefbegabt?« Die Augenbrauen vom Bühl waren in der Mitte zusammengerutscht.
    »Das bedeutet, ich kann zwar viel denken, aber nicht besonders schnell«, quetschte ich eine weitere Erklärung raus.
    »Ohhhkay«, sagte er sehr langsam.
    »Das heißt allerdings nicht, dass ich dumm bin. Zum Beispiel ist der Mond 384401 Kilometer von der Erde entfernt. Im Durchschnitt.«
    »Verstehe.« Wieder sehr langsam.
    »Vorgestern wusste ich das noch nicht, und womöglich vergesse ich es bald wieder. Manchmal fällt mir nämlich was aus dem Kopf, nur weiß ich vorher nicht, an welcher Stelle.«
    »Tja, wenn das so ist.. .«Jetzt lächelte der Bühl, und es war ein nettes Lächeln. Er zog die Tür nach innen auf. »Dann komm mal rein.«
    Wurde aber auch Zeit!
    Ich drückte mich an ihm vorbei und er schloss die Tür.
    Sofort stieg mir der Geruch von Wandfarbe in die Nase.
    Uberall im Korridor standen Kartons herum, die meisten gestapelt, zum Teil verschlossen, andere aufgerissen.
    »Ich hoffe, ein bisschen Unordnung macht dir nichts aus«, sagte der Bühl. »Der Umzug, du verstehst schon.«
    Ich schüttelte großzügig den Kopf. Solange er sich Ordnung angewöhnte, falls er Mama heiraten sollte, war das völlig okay.
    Die Tür gleich neben mir stand offen, da ging ich rein. Es war das Wohnzimmer, und es sah aus, als wohnte der Winter persönlich darin.

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