Riemenschneider
einigen Schlucken aus dem Weinpokal.
So nackt fühlt er sich; abgelegt ist in dieser Nacht die Doktorwürde, verlassen der gerade bestiegene Lehrstuhl an der theologischen Fakultät zu Wittenberg. Martin, nur Martin mit seinen Ängsten, seinem Suchen sitzt dort und studiert den Brief des Apostels an die Römer. So oft schon gelesen überfliegt er wieder die Zeilen. » … bin ich geneigt, auch euch zu Rom das Evangelium zu predigen. Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben …«
Seine Brauen verengen sich. Noch ehe er das Wort im nächsten Vers erreicht, sticht es, quält es ihn: Gerechtigkeit Gottes. »Diesem Allmächtigen sind wir nichts. Wie hasse ich seine Gerechtigkeit. Er ist frei von jedem Gesetz. Wie einen Gaul reitet er uns, hält die Zügel und lenkt uns, wohin es ihm beliebt.« Martin ballt die rechte Hand und presst sie auf die Bibelstelle. »Wir aber können uns mühen und mühen und bleiben doch durch die Erbsünde auf ewig verloren. Und dann droht uns dieser Herrgott durchs Evangelium auch noch Gerechtigkeit und seinen Zorn an. Denn ist er gerecht, so muss er strafen.«
Die Faust schmerzt. Weißlich schimmern die Knöchel. Martin versucht die Finger zu öffnen, vergeblich. Tiefer graben sich die Nägel ins Fleisch. Auch mit Hilfe der linken Hand lässt sich der Krampf nicht lösen. Er will die Faust von der Heiligen Schrift wegziehen, es gelingt nicht, sie ist schwer wie der Klumpen Erz im Bergwerksstollen des Vaters, den er als Kind nicht aus eigener Kraft bewegen konnte.
»So hilf mir doch, Herr.« Martin stemmt sich von der Tischkante ab, zerrt, ruckt, langsam bewegt sich die Faust, gibt Stück für Stück den Vers frei, leichter wird sie am Seitenrand, und neben dem aufgeschlagenen Buch lassen sich die Finger wieder ohne Mühe lösen.
»Satan, ich durchschaue dein Spiel.« Martin presst ein Tuch auf die Wundmale in der Handfläche. »Wenn ich auch murre, mich auflehne, so hoffe nicht, Satan, dass ich mich von ihm abwende.« Wie zum Beweis beugt er sich über die verhasste Stelle des Apostelbriefes, auf der seine Faust so unverrückbar gelegen hat: »Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie denn geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben.«
Ein Ton schwingt in seinem Innern, nicht quälend, nicht laut. »Der Gerechte lebt aus Glauben.« Der Raum vergrößert sich, voller klingt der Ton. »Wenn wir Gerechte aus dem Glauben leben sollen und wenn die Gerechtigkeit Gottes jedem, der glaubt, zum Heil verhilft, so kann es nicht unser Verdienst sein, sondern allein die Barmherzigkeit Gottes.«
Erneut wird die Saite auf der unsichtbaren Laute angeschlagen. Der Klang dehnt die Brust, erlaubt das Sitzen nicht mehr. Martin muss große Schritte tun, das Turmzimmer ist zu klein, Fenster, Tür, gleich wieder das Fenster … Nur die Nacht ist draußen … Er beugt sich vor, drückt das Gesicht ans Glas: Nicht mehr nur Nacht, dort hoch über den Dächern sind schon die Schleier der Dunkelheit etwas gelichtet.
»Durch Christus, durch seinen Kreuztod werden wir erlöst, werden wir gerechtfertigt. Daran glauben heißt: gerecht werden.« Martin biegt den Körper, sieht zur Decke und beschirmt gleich die Augen mit der rechten Hand, die Wundmale spürt er nicht. »Gerechtigkeit, Gottes ewige Gerechtigkeit ist ein Geschenk seiner Gnade. Niemand und nichts kann dieses Geschenk erringen, keine Tat, keine Gefälligkeit. Allein durch den Glauben an Jesum Christum werden wir teilhaben …« Die unvermittelte Weite der Gedanken verursacht Schwäche, Martin sinkt nieder auf die Knie. »Stets habe ich nach Anerkennung Gottes gesucht. Weil ich ihm gefallen wollte, habe ich gebeichtet, gebüßt … und nichts erreicht.«
Die Augen füllen sich, gleichzeitig lächelt der Mund, und unter Tränen der Erleichterung flüstert er: »Kein Mensch kann Gott etwas abnötigen. Nicht er kann Gott suchen, nein, zuerst sucht Gott ihn. Das ist es.« Martin erhebt sich, er setzt einen Fuß vor und versucht, sich auf dem Ballen zu drehen, setzt den andern Fuß nach, hilft mit den Armen dem Schwung, nur unbeholfen gelingt die Leichtigkeit, und doch glaubt er für einen kurzen Moment zu tanzen.
Der Maimorgen erstrahlt über Wittenberg. Getrieben von der neuen Unruhe, hat es Martin nicht im Kloster gehalten. Ehe seine erste Vorlesung begann, wollte er mitteilen, abgeben, um die Fülle besser ertragen zu
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