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Riemenschneider

Riemenschneider

Titel: Riemenschneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
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Altars zuwies.
Anna sah hinauf zur verhüllten Figur auf dem mit Ranken und Blättern verzierten Sockel, dann neigte sie den Kopf und flüsterte im Schutz des hohen Mantelkragens. »Sitzen wir hier etwa auf der Seite, wo sie steht?«
Til faltete die Hände und bemühte sich um einen sanften Ton. »Beruhige dich, meine Liebe. Es ist so, wie es sein muss.«
»Dann sag es.«
Er antwortete nicht, nickte nur.
»Also direkt über mir.«
Til sog den Atem ein. Gleich spürte er ihre Hand auf seinem Arm. »Nein, ich sage nichts mehr.« Sie drehte den fülligen Körper halb zu ihrem Gemahl und richtete den Blick an ihm vorbei zur linken Seite des Südportals. »Ich wollte nur wissen, wohin ich sehen möchte.«
Aus der Nebenpforte huschten die Chorknaben. Mit gesenkten Köpfen nahmen sie links des Altars Aufstellung. Nun erschien der Priester feierlichen Schritts, und in dem Wehen seiner weißen Gewänder zog er Messdiener und Diakone mit sich. Heute war das Fest Mariä Geburt, zunächst sollte ihr zu Ehren die Messe gefeiert, gleich im Anschluss dann das erste Menschenpaar enthüllt und gesegnet werden.
Til senkte den Blick auf seine geöffneten Hände, betrachtete die breiten schwieligen Flächen. Sie waren durchzogen von dunklen Hautrissen, die sich bis in die Kuppen der sehnigen Finger fortsetzten. Adern aus Steinstaub, dachte er und rundete nach einer Weile die Lippen. Nein, viel mehr: Es sind Adern aus ihrem Staub. Spuren meiner Eva.
Der Knabenchor schwieg.
»Oremus!«
Ratsherren und Ehrengäste erhoben sich von den Bänken. Während Til aufstand, half er Anna mit festem Griff, dennoch stand sie neben ihm und keuchte wie nach schwerem Treppensteigen.
Vorn am Altar begrüßte der Diener Gottes mit wohltönender Stimme die heilige Mutter: »Salve, sancta Parens, enixa puerpera Regem: qui caelum terramque regit in saecula saeculorum …«
In der Küche des Bauernhauses am Bach hockte Jakob zusammengesunken auf dem Stuhl. Blut quoll ihm aus Mund und Nase. Sein Peiniger hatte die Handschuhe nicht ausgezogen. Die Beine leicht gespreizt, lehnte er am Küchentisch. Wieder fasste er dem Opfer ins schüttere Haar, riss den Kopf hoch und schlug das Gesicht auf die Tischplatte. »Du lügst. Ich weiß es. Und das missfällt mir und unserm Herrn, Abt Nikolaus. Du hast im letzten Jahr nicht bezahlt und auch nicht im Jahr davor. Dabei hat dir der Abt in seiner Großzügigkeit sogar Geld für Saatgut geliehen. Heute ist es so weit, heute werden alle deine Schulden fällig. Fangen wir noch mal von vorn an. Her mit dem Zehnt auf dein Korn für dieses Jahr.«
»Nichts … Ich hab’s doch gesagt. Es war kein guter Sommer für mich«, brachte Jakob mühsam heraus. »Die Fronarbeit war zu lang. Mir blieb keine Zeit für die eigenen Felder …«
»Das sagen sie alle, wenn ich komme und den Zins eintreibe.« Der Anführer bog den Kopf des Bauern nach hinten. »Aber das hilft dir nichts. Dich hab ich ausgewählt. An dir sollen die anderen Faulenzer hier im Tal sehen, was jedem zustößt, der seine Schulden nicht bezahlt.« Kurz und hart schlug er mehrmals den Peitschenstiel auf die schon geplatzten Lippen.
Jakob stöhnte, verschluckte sich am Blut, hustete, und ein dunkelroter Speichelschwall ergoss sich über den Ärmel des Schinders, Spritzer trafen das Gesicht.
»Du stinkender Köter. Du wagst es, mich anzuspucken.« Wahllos prasselten jetzt die Schläge auf Kopf, Ohren und Nase. Mit einem Mal hielt der Anführer inne. »Nein, nein, bleib schön wach. Und freu dich nicht zu früh. Ich werde dich nicht erschlagen, aber alles, was du hast, nehme ich mit. Und du wirst deine Lektion erhalten und allen noch sagen können, was du heute von uns gelernt hast.« Er schnippte seinen Knechten. »Legt ihn auf den Tisch und zieht ihm die Hosen aus.« Langsam quetschte er in der Luft eine Faust. »Wollen doch mal sehen, wie fest die Hoden sind.«
Während der Anführer sich mit einem Tuch den besudelten Wamsärmel reinigte, versprach er dem Geschundenen: »Und glaub mir, das ist erst der Anfang …«
Der Himmel war etwas aufgeklart. Über dem Judenplatz schimmerte eine silbrige Sonnenscheibe durch die Wolkendecke. Vorn am Altar hatte der Priester nach Gebet und Friedenswunsch der Gemeinde das »Ite missa est« zugerufen und den Segen gesprochen.
Eine Weile noch verharrten die Gläubigen vor dem Südportal im stillen Gebet, nach und nach aber hoben sich die Gesichter, wie ein Schleier wich die Andacht von den Mienen, aus erstem Flüstern wurde halblautes

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