Riemenschneider
Gemurmel, irgendwo in der Menge lachte ein Kind hell auf, gleich folgte kurzes Klatschen, und der Jubel ging über in jämmerliches Geschrei.
Anna Riemenschneider presste die Hand an ihre linke Brustseite und atmete schneller. Als Til es bemerkte, versicherte sie mit tapferem Lächeln: »Es ist schon wieder gut. Kümmere dich einfach nicht um mich. Heute ist ja dein Ehrentag.«
Im ersten Moment wollte er darauf eingehen, zog dann aber Schweigen vor, weil jede auch noch so mitfühlende Antwort sicher Schlimmeres verursacht hätte.
Die beiden Bürgermeister erhoben sich von den Plätzen. Sofort versickerten alle Gespräche.
Georg Suppan hatte es gar nicht auf eine Abstimmung im Rat ankommen lassen, sondern hatte sich allein kraft seines Amtes als oberster Stadtvater das Vorrecht gesichert, die Eva zu enthüllen. So strebte er gewichtigen Schritts zur rechten Seite des Portals, und der Unterbürgermeister nahm auf der linken neben dem Knabenchor Aufstellung. Leise summte der Diakon, und auf sein Zeichen hin stimmten die Sänger das Halleluja an. Ihre Lobpreisung stieg an den Mauern und Fenstern der Marienkapelle hinauf, wehte weit über die Festgemeinde, bis sie in den Gassen der Stadt verhallte.
Meister Til befeuchtete die Lippen, noch einmal prüfte er mit schnellem Blick die herunterhängenden dünnen Seile, beide Enden schwebten auf gleicher Höhe, weiter oben am Blattwerk der Podeste sah er keine verdächtigen Schlaufen, jeder Strick führte glatt hinauf zum gerafften Saum des grauen Leintuches über den Köpfen der Figuren. Zwei Tage hatte es gedauert, und sechs kräftige Helfer waren nötig gewesen, um Adam und Eva mit Flaschenzügen und Leitern auf die hoch angebrachten Sockel zu hieven, an der Wand zu verankern und sie dann gleich zu verhüllen. Bisher hatte es keine Zwischenfälle gegeben, und auch jetzt deutete nichts auf ein Missgeschick hin, dennoch flüsterte Til tonlos: »Herr, lasse es gelingen.«
Der Priester wandte sich an die Gemeinde: »Adjutorium nostrum in nomine Domini.«
Kinder und Frauen stimmten in den abwechselnden Sprechgesang ein: »Qui fecit caelum et terram.«
»Dominus vobiscum.«
»Et cum spiritu tuo.« Freudig lächelnd breitete der Diener Gottes seine Arme aus und gab mit leichtem Handwedeln das Zeichen.
Beide Bürgermeister fassten nach den Seilenden. Ein gleichzeitiger behutsamer Ruck. Evas Tuch gab nach, rutschte. Auf der anderen Seite musste der Unterbürgermeister erneut und diesmal heftiger am Seil ziehen, nun löste sich auch die Verhüllung über ihm. Doch zu spät. Evas Blick, ihr Mund lächelten schon, dann erst erschien das besorgte Antlitz des Adam, leicht fielen die Tücher und ließen zu, als wäre es ein Augenzwinkern des Schöpfers, dass sich die Frau noch vor dem Mann am Südportal zeigte.
Stille erfasste die Menge, allmählich erst kehrte das Leben mit Atmen und Seufzen zurück.
Der Priester starrte zum Adam hinauf, sein Lächeln gefror, er riss sich los und wandte sich Eva zu. Nur ein Blick, gleich senkte er verschämt den Kopf. »Ore …« Die Stimme versagte den Dienst, nach heftigem Räuspern endlich wiederholte er: »Oremus.«
Alle Vornehmen erhoben sich von den Bänken, die Stadtoberen reihten sich wieder bei den Ratsherren ein, und hinter ihnen falteten die Bürger die Hände.
»Omnipotens sempiterne Deus, qui Sanctorum tuorum imagines sculpi …«
Und während der Priester dem Allmächtigen für die Erschaffung der Stammeltern dankte und den Segen für ihre neu geschaffenen Abbilder erflehte, fühlte sich Til mit einem Mal in der Andacht gestört und öffnete die Lider. In der Reihe vor ihm hatte sich der Unterbürgermeister halb umgewandt und starrte ihn empört an.
Til runzelte die Stirn. Gefiel ihm das Menschenpaar nun doch nicht? Bei der Vorbesichtigung durch den Stadtrat war auch er voll des Lobes gewesen und hatte dafür gestimmt, dass dem Meister neben dem vertraglichen Honorar von 110 Gulden noch zehn weitere als besondere Anerkennung bezahlt werden sollten. Ratlos hob Til die Schultern.
Diese Geste schien den Unterbürgermeister tief zu kränken, mit bebender Unterlippe zischte er: »Absichtlich hast du dem Adam das Tuch fester geknotet. Danke, Meister, für die Blamage.«
Til benötigte einen Atemzug. Als er den eitlen Kummer des Stadtvaters begriff, vermochte er nur mit Mühe die ernste Miene zu wahren. »Nicht ich«, versicherte er flüsternd, »die Haare sind schuld.« Sein Finger deutete verstohlen zu Adams üppiger Lockenpracht hinauf. »Evas
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