Riemenschneider
Hersfeld nach Eisenach leer. Im Wagen lehnt sich Martin Luther wieder zurück. »Bald, Freunde.« Das Lächeln gelingt nicht. »Bald ist es geschafft.«
Die vier Reisebegleiter nicken. Seit der letzten Zollstation sind die ohnehin spärlichen Gespräche vollends im Sand der Furcht versickert. Noch eine Grenze.
Sieben Tage sitzen die Männer nun schon eng zusammengepfercht im geliehenen Rollwagen unter der Plane. Am 26. April 1521 waren sie in Worms aufgebrochen, begleitet und beschützt vom Reichsherold und seinen Reitern. Doch in Friedberg hatte Bruder Martinus den einzig wahren Garanten für seine Sicherheit wieder zurückgeschickt. »Gott ist unser Hirte.« Von da musste das kaiserliche Schreiben, die Zusage des freien Geleits, allein als ihr Schild und Schwert gegen mögliche Übergriffe der Päpstlichen auf den verhassten und gebannten Mönch dienen.
»Bitte, wir verhalten uns still, als gäbe es uns gar nicht«, hatte Ordensbruder Petzensteiner den Mitbruder angefleht. Doch er? Als ihn der Abt des Benediktinerklosters zu Hersfeld drängte, konnte er, wollte er nicht schweigen und musste heute früh um fünf Uhr noch vor dem Aufbruch eine Predigt halten, als Dank für die freundliche Herberge.
Johann Petzensteiner senkt die Nasenspitze in seine vor dem Mund zusammengelegten Hände, so betrachtet er verstohlen und mit Bangen den Freund. Ausdrücklich war es Martin auf dem Geleitbrief verboten worden, während der Rückreise zu predigen oder durch Ansprachen das Volk zu erregen. Und nun, so kurz vor dem Ziel, hat er gegen die Auflage verstoßen. »Solch ein Leichtsinn.«
Johanns Nachbar, Nikolaus von Amsdorf, schreckt aus den Gedanken. »Was sagtest du?«
»Nichts, gar nichts.« Und das Schweigen kehrt zurück.
Nahe Herleshausen taucht unvermittelt der Schlagbaum vor ihnen auf. Mit »Ho« und noch einmal »Ho« zügelt der Kutscher das Gespann. Trotz des Geleitbriefes werden Fragen gestellt. O hüte dich, Reisender, an jeglicher Grenze, unterdrücke deinen Zorn, zeige dich bescheiden und gib Antwort ohne Zögern.
»Vom Reichstag in Worms.« Nein, Handelswaren führen die Herren nicht bei sich. Nur das Nötigste, einen Schlauch Wasser gegen den Durst und zum Verzehr unterwegs ein Stück Schinken und etwas Brot. Der Blick forscht im Gesicht des Mönches. »War da nicht ein Anschlag? Sogar mit Eurem Konterfei? Ein kaiserliches Mandat, dass Ihr gebannt seid?«
»Beachtet das Datum des Briefes. Mein freies Geleit gilt noch für die nächsten zwei Wochen. Und nun bitte ich, befolgt den Befehl des Kaisers.«
Kein freundlicher Gruß, mit Fingerschnippen lässt der Hauptmann die Reisenden passieren.
Erst hinter der nächsten Biegung löst sich die Anspannung. »Thüringen, du geliebte Heimat, sei gegrüßt!« Martin greift nach der Laute, stimmt ein Loblied an, und mit Gesang geht es durch Wälder, die Höhen hinauf und wieder hinab, so beschwingt rollt der Wagen zwischen Feldern und Wiesen her.
Welch ein Empfang in Eisenach! Die Bürger jubeln, und Martin predigt zum zweiten Mal, trotz des kaiserlichen Verbots: »Wie werde ich fromm? So frage ich. Wie komme ich zur ewigen Seligkeit? Brüder und Schwestern! Nicht durch eigene Werke, sondern durch Christus allein …« Aus Furcht vor drohenden Folgen hat der Ortspfarrer zuvor ein förmliches Protestschreiben bei einem Notar hinterlegt.
Am nächsten Morgen verabschiedet Martin Luther zwei der getreuen Begleiter. »Geht ihr auf direktem Weg nach Wittenberg und berichtet von meinem Sieg.« Er will mit den beiden anderen Freunden noch zu den Wurzeln des Lutherschen Baums. »Kommt, auf nach Möhra im Moorgrund.« Sonderbar ausgelassen streicht er über den Bauch seiner Laute. »Dort statten wir dem Bruder meines Vaters einen Besuch ab. Wenn Onkel Heinz noch genug hört, werde ich ihm das schöne Lied vom Reichstag singen.«
»Singen, ja!« Bruder Petzensteiner schluckt heftig. »Doch bei allen Heiligen, bitte nicht predigen!«
»Du rufst die Falschen an«, ermahnt Martin in gespielter Strenge. »Und im Übrigen habe ich in Worms nicht eingewilligt, dass Gottes Wort geknebelt wird.«
Längst liegt das kleine Dorf im Schlaf. Nur hinter den Fenstern des Fachwerkhauses am Mittelplatz flackert noch Licht. Heinz Luther hockt am Tisch, die Arme aufgestützt, mit der Hand vergrößert er seine linke Ohrmuschel, so versucht der alte bodenständige Mann dem Bericht zu folgen. Dass sein Neffe Schriften herausgegeben hat, die das Fundament der römischen Kirche ins Wanken zu bringen drohen,
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