Riemenschneider
Kirchen erbetteln. Nach dem harten Magdeburger Jahr bei den Brüdern am Diebshorn hatten die Eltern ihn zur Weiterbildung in die Stadt unterhalb der Wartburg geschickt. Martin wohnte bei mittellosen Verwandten der Mutter, ertrug die Enge und lernte eifrig, während um ihn herum Kinder zankten, Frauen das Gemüse putzten und der Klatsch aus der Nachbarschaft ausführlich diskutiert wurde.
Sonntag für Sonntag sang Martin in der Stadtkirche, betete und versah als Messdiener seine Pflichten am Altar. Und von Sonntag zu Sonntag hatte die Patrizierin Ursula Cotta mehr Gefallen an dem so offen blickenden Jüngling gefunden.
Martin trocknete mit dem Rockärmel die Stirn. »Nichts habe ich davon bemerkt«, flüsterte er. »Nicht einmal aufgefallen ist mir Frau Ursula.« Kurz sah er zu den Wolken. Grauschwarze Riesengebilde türmten sich über ihm, er nahm sie wahr, dachte nicht an eine Bedrohung, sondern gab sich weiter der Erinnerung hin.
Eines Tages war ein Bote gekommen und hatte ihm eine Einladung ins Haus der Familie Cotta überbracht. Welch andere Welt! In den Räumen gab es keinen üppigen Prunk, doch Möbel, Teppiche, Bilder, die ganze Einrichtung atmete gediegenen Wohlstand aus. Obwohl er sich die Schuhe vor dem Eintreten mehr als gründlich gereinigt hatte, war der Bergmannssohn bei seinem ersten Besuch auf Fußspitzen über das Parkett gegangen und hatte sich nur vorn auf die Kante des Sessels gesetzt.
»Mein Gemahl und ich haben Gefallen an dir gefunden.« Frau Ursula strich ihm leicht über den Handrücken. »Da wir selbst kinderlos sind, dieses Haus aber genügend Platz bietet, möchten wir dich einladen, bei uns zu wohnen. Hier kannst du ungestört lernen.« Als sie lächelte, hob sich der Busen. Ihre Lippen, die weiche Fülle, verwirrten, Martin senkte den Blick zur Seite. »Das Kostgeld ist sicher zu hoch.« Seine Stimme gehorchte nicht. »Ich bin Currendeschüler, mit Singen kann ich nicht so viel verdienen.«
»Aber, Junge, wo denkst du hin? Nicht einen Pfennig wird es dich kosten.« Sie nahm seine Hand in beide Hände. »Ich möchte dich als Sohn bei mir aufnehmen, deine Pflegemutter sein. Dafür erwarte ich doch keine Bezahlung.«
Verwundert und tief im Innern beinah erschrocken, spürte Martin den Druck ihrer Fingerkuppen. Das waren nicht die harten, schwieligen Hände der Mutter in Mansfeld, die selten streichelten und selbst dann auf der Wange oder dem Arm nur schmerzhaft über die Kinderhaut schabten, eine weiche Wärme fühlte er. »Danke.« Nur ein Flüstern gelang: »Ich, ich werde Euch keine Schande bereiten.« Und wollte seine Hand nicht zurück, wollte sie in der sanften Geborgenheit lassen.
Die Verwandten waren erleichtert, nun wieder selbst über den Schlafplatz verfügen zu können, der Vater fragte nicht genauer nach, nur so bewahrte er seinen Stolz und duldete die Übersiedelung des Sohnes ins Haus der neuen Wirtsleute. Und Martin?
»Nie war ich so glücklich.« Entferntes Grollen im schweren Wolkenhimmel weckte ihn aus der Erinnerung. Er hakte die Daumen in die Schulterriemen des Rucksacks und überprüfte die Richtung. Rechts in der Ferne sah er die Dächer des Dorfes Stotternheim, vor ihm dehnte sich eine sumpfige Wiese, reichte bis zum Hügel. Weit hinten erkannte er die einzelne Eiche, sein Wegzeichen. »Hab mich nicht verlaufen.« Von dort war es nur noch eine gute Stunde bis nach Erfurt.
Martin hielt auf den mächtigen Baum zu. Modriger Geruch entstieg dem Gras, beschwerte die stickige Schwüle noch. Er hob sich darüber hinweg und kehrte ins Haus seiner Gönnerin zurück.
Des Morgens, mittags und zum Abend, täglich gab es Mahlzeiten. Essen nach Herzenslust, und zwischendurch überraschte ihn Frau Ursula sogar noch mit süßem Gebäck oder kandierten Früchten.
»Nicht ein einziges Mal bin ich hungrig zu Bett gegangen.« Martin betätschelte seinen Bauch. »Ob ich wollte oder nicht, den kleinen Ranzen musste ich mir damals zulegen und werde ihn, so Gott will, noch lange in Ehren tragen.«
Um seine Dankbarkeit zu beweisen, lernte er noch eifriger in der Schule, verfeinerte die Kenntnisse in Latein und Griechisch, lernte den Geist der Sprachen zu erfassen und überbrachte jedes Lehrerlob wie ein Geschenk seiner Gönnerin. »Danke.« Sie umfasste ihn mit dem Blick. »Ich bin so stolz auf dich.«
Die Krone des Wohllebens aber war für ihn das Bad am Samstagnachmittag. Unten in der Waschküche setzte er sich dann in den gut gefüllten Holzzuber, ließ das heiße Wasser unter seinem Kinn
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