Riesling zum Abschied
Wahrscheinlich tat sein Vater instinktiv das Richtige, genau das, was Manuel jetzt brauchte. Er legte ihm den Arm um die Schultern und ging mit ihm zum Wohnhaus. Sein Vater hatte es leicht, er hatte Alexandra nur flüchtig kennengelernt ... Aber um Alexandra ging es jetzt nicht mehr, es ging um Manuel. Es sah für ihn nicht gut aus.
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Das Weingut, eingeschlossen von hohen Mauern, lag am Rande des Dorfes. Rechts neben der von einem Bogen überspannten Einfahrt fand Johanna eine Klingel und die Gegensprechanlage, doch sie ignorierte beides und trat unter dem Bogen hindurch in den weiten Hof – und sah sich inmitten einer Baustelle. Die alten, aus Bruchstein bestehenden Wände der Mauern waren nur von innen neu verfugt, den Gebäuden hingegen fehlte noch der Anstrich. Die gesamte rechte Seite war offen und überdacht, dort lagen neben Werkzeugen und einem Betonmischer Klinker und Feldsteine, Zementsäcke und Bauholz. Ein Schlepper und Maschinen für den Rebschnitt standen unter einer Remise, daneben ein vielarmiges Radialgebläse zum Spritzen der Weinstöcke, das Johanna immer an die indische Göttin Kali mit ihren sechs Armen erinnerte.
In die zweigeschossige Wand direkt vor ihr waren zwei Tore und eine Reihe schmaler Fenster eingelassen, daneben arbeiteten zwei Maurer auf einem Gerüst. Die nach Süden und Westen ausgerichteten Dachflächen waren komplett mit Solarzellen bestückt. Hier konnte sie mit offenen Ohren für ihre weitergehenden Vorschläge zum Energiesparen rechnen – auch für damit verbundene Investitionen. Laut Thomas Achenbach waren er, sein Vater und Manuel Stern, dessen Rolle auf diesem Weingut ihr nicht klar war, dabei, das Weingut auf ökologische Traubenproduktion umzustellen. |62| Der Prozess würde drei Jahre in Anspruch nehmen, bis sie das entsprechende Zertifikat erhielten. Wie lange sich Pestizide von der Pilzbekämpfung und Reste vom Mineraldünger im Boden hielten, stand auf einem anderen Blatt. Kupfer baute sich sowieso nicht ab.
Es waren häufig die qualitätsbewussten Winzer, die eine ganzheitliche Vorstellung von ihrer Arbeit und ihrem Wein entwickelten. Der Boden, das Wetter, die Rebe, der Mensch und der Raum, in dem alles zusammenwirkte, bildeten eine Einheit. Wenn es nach Johanna gegangen wäre, hätte man damit bereits vor zwanzig Jahren begonnen. Es ist doch längst zu spät dafür, sagte sie sich. Es wird heißer, trockener und extremer – die beunruhigenden Vorhersagen bewahrheiten sich. Und dann kommen die Katastrophen ...
Johanna wandte sich links von einer Steintreppe dem Hochparterre zu. Die ausgetretenen Stufen waren breit genug, um Platz für üppig sprießendes Löwenmaul, Fuchsien, gelbe Pantoffelblumen, Eisenkraut und Wandelröschen in Tontöpfen zu lassen. Hier zeigte jemand seinen grünen Daumen. Sie erschrak, als plötzlich Thomas Achenbach oben auf dem Treppenabsatz stand. Von unten wirkte er noch größer, als wenn man ihm gegenüberstand. Johanna empfand ihn als extrem eigensinnig, und ob sein Selbstbewusstsein echt war, würde sich herausstellen. Für sein Alter jedoch war er zu gebildet und zu ernst, er hatte etwas von einem Hagestolz; ein moderneres Wort für seine kühle Ablehnung Frauen gegenüber fiel ihr nicht ein. Aber was er sagte und fragte, hatte immer Hand und Fuß. Trotzdem war sie erleichtert, als Manuel Stern hinter ihm erschien und sie fröhlich begrüßte. Er gab ihr weit mehr das Gefühl, willkommen zu sein. Sie war erleichtert, dass er nach dem Tod seiner Freundin mal ein spontanes Lächeln zeigte. Ein so harter Schlag hinterließ tiefe Spuren. Doch auch Thomas Breitenbach kam die Treppe herab und streckte ihr gut gelaunt die Hand entgegen.
|63| »Schön, dass Sie uns gefunden haben, dann können wir frühstücken. Kaffee? Tee? Milch? Bio-Eier? Von allem etwas?«
»Er meint das zweite Frühstück«, ergänzte Manuel Stern. »Den ersten Kaffee hatten wir um sechs, dabei haben wir uns erst um halb zwei hingelegt.«
Johanna war verblüfft. Von der kurzen Nacht war ihm nichts anzusehen, er wirkte entspannt, er war offen und nach außen gewandt, ganz anders als der verschlossene, in sich gekehrte Student, der im Hörsaal ohne einen Mucks ihren Ausführungen gefolgt war. Und sein charmanter bayerischer Akzent brach durch. Es war spannend, wie sehr der Raum den Menschen veränderte. Er musste sich hier sehr wohl fühlen. War ihr negativer Eindruck von Thomas Achenbach demnach auch falsch?
Als sei er zu Hause führte Manuel Stern
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