Riesling zum Abschied
können. Wir müssen wissen, was man Herrn Stern genau vorwirft, welche Beweise vorliegen, und um einen guten Anwalt könnte ich mich kümmern.«
»Den wird er dringend brauchen«, sagte der Chemiker mit vollem Mund und betrachtete das Foto in der Bild-Zeitung, er schien es mit der gleichen Inbrunst wie seinen Hamburger zu verschlingen.
»Ich kannte sie nicht, diese Alexandra Lehmann«, sagte Johanna, die sich an den Chemiker heranpirschen wollte, dessen Begeisterung für junge, gut aussehende Studentinnen ihr ein wenig zu weit ging. »Hat sie bei einem von Ihnen Kurse oder Übungen belegt oder Praktika gemacht?«
|115| Der Chemiker überließ dem Professor die Antwort.
»Sie studierte Internationale Weinwirtschaft. Da werden Menschen fürs Marketing, für den Im- und Export herangebildet, für international agierende Unternehmen. Wirtschaftswissen, Statistik und Recht sind wichtiger als Weinbau, aber die Grundlagen des Weinbaus bekommen sie beigebracht.« Marquardt wandte sich an den Chemiker. »Sie hat doch auch Ihre Lehrveranstaltungen besucht?«
»Hatten Sie nicht im Frankreich-Projekt mit ihr zu tun?«
Der Lärm in der Mensa war abgeebbt, viele Studenten saßen inzwischen draußen, das Wetter war wunderbar, und dort durfte geraucht werden. Überall standen und saßen Gruppen zusammen, um ein Laptop versammelt, lachend, laut, aber heute schien Johanna alles weniger lebhaft. Noch drei Tage, dachte sie, dann ist das Thema »Manuel und Alexandra« vom Tisch, genauso Geschichte geworden wie die Waldbrände in Russland und die Toten der Loveparade.
»Und in Ihrer Forschungsgruppe war sie auch«, setzte der Chemiker den Gedanken fort, ein Vorwurf, der sofort von Marquardt gekontert wurde, ein wenig von oben herab.
»Dass Sie sich derart äußern, kann ich nachvollziehen, schließlich hatte Stern bei Ihnen Weinchemie belegt, Sie kennen ihn seit dem ersten Semester, da gelangt man zu einem fundierten Urteil.«
»Durchaus – wenn Sie seine Klausuren sehen – er gehörte zu den Besten. Aber leistungsorientierte Menschen sind oft psychisch labil.« Der Chemiker hatte offenbar keine Lust auf weiteres Geplänkel, bei dem die Grenze zwischen Ernst und Spaß verschwamm.
»Die Zeit für den Espresso kann ich mir heute nicht mehr nehmen.« Er stand auf.
»Vergessen Sie unsere Zeitschrift nicht«, Marquardt nickte ihm aufmunternd zu, »sie wird Ihnen gefallen.«
|116| Johanna sah dem Chemiker nach, bis er die die Tür überragende Flasche J&B Whisky erreichte, die den Ausgang markierte. War sie als Werbung für oder als Warnung vor den Gefahren des Alkohols gedacht? Über der Tür hing eine Uhr, es war 13:30 Uhr, also durfte sie noch einige Minuten bleiben.
»Es ist nicht leicht, mit allen gut auszukommen.« Marquardt seufzte. »Sie werden mir zustimmen, Frau Kollegin, Sie sind viel herumgekommen. Aber mit den meisten Kollegen macht es Spaß. Wo waren Sie tätig, bevor Sie zu uns gestoßen sind?«
»Beim World Wide Fund for Nature, davor habe ich für eine Consultingfirma gearbeitet, davor ...«
»Wie interessant. Umweltschutz in der freien Wirtschaft? Dann vermute ich bei Ihnen einen ausgeprägten Sinn für Realismus. Bei welchem Unternehmen denn?«
»Ich glaube kaum, dass Sie die Firma kennen, es war in Stuttgart«, beeilte sie sich zu sagen. »Jetzt bin ich sozusagen in der Lehre gelandet, die Forschung fehlt mir allerdings noch.« Es war ein Versuch ins Blaue hinein. Vielleicht hatte Marquardt etwas zu bieten, Wissen oder Beziehungen, die ihr nutzen konnten.
War das mit der Firma in Stuttgart schon zu viel an Information? Der Abschied war nicht rühmlich gewesen, aber der Rausschmiss hatte sie wieder zurück auf ihren eigenen Weg gebracht. »Sie unterrichten Phytomedizin. Gehört Pflanzenschutz auch zu Ihrem Forschungsbereich? Soweit ich das System hier verstehe, sind die Dozenten zur Arbeit innerhalb der Forschungsanstalt verpflichtet, eine gute Idee. Man bleibt immer vorn, besonders bei den Problemen, die auf uns zukommen ...«
»Und was betrachten Sie als größte Herausforderung, von Ihrer Warte her?«
Er will mich testen, dachte Johanna, na gut – soll er. »Die Anpassung an den Klimawandel. Soweit ich weiß, hat es in |117| den letzten zwanzig Jahren im Rheingau keinen schlechten Jahrgang mehr gegeben. Der Riesling reift aus.«
»Das kann durchaus richtig sein, wenn man nur die steigenden Temperaturen betrachtet, aber ich halte die These vom Klimawandel für einen Irrglauben.«
Jemanden,
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