Riesling zum Abschied
stimmt.«
»Sind Sie nicht zu misstrauisch, Thomas?«
|180| Die Frage erinnerte Johanna an ihr eigenes Misstrauen gegenüber dem Kollegen, der ihr das Foto in der Bild-Zeitung gezeigt hatte. »Falls Sie bei Ihren vielseitigen Aktivitäten etwas Zeit erübrigen können, kümmern Sie sich mal um den Chemiedozenten.«
»Herrn Florian? Sie meinen, weil Alexandra sich allem Anschein nach intensiver mit seinem Fachgebiet beschäftigt hat?« Thomas sprang sofort darauf an. Sein Tempo und sein Schwung imponierten Johanna, ja, sie bewunderte ihn im Stillen und dachte daran, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie mit Carl ein Kind gehabt hätte. Wäre ihr Leben ärmer oder reicher geworden? Aber es war müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Sie war da, wo sie war, und es war nicht gut. Noch nicht – sagte sie sich, noch nicht.
Als Thomas das Haus verließ, waren die nächsten Schritte besprochen und die Aufgaben verteilt. Sie würden sich morgen wieder treffen, nachmittags beim Winzer Peter Jakob Kühn, der im Weinbau einen anthroposophischen Weg ging, wohin der auch immer führen mochte. Er hatte Johanna neugierig gemacht, obwohl sie Steiners Theorien ablehnte, sie konfus und als unwissenschaftlich empfand.
Die sogenannte weiße Rasse mit dem Denken zu verbinden, die gelbe mit dem Gefühl und die schwarze mit dem Triebleben hielt sie für Unsinn und rassistisch. Demnach war Adolf Hitler der Denker, hatte Nelson Mandela nur getanzt, während Konfuzius und Mao Tse-tung sich in ihren Gefühlen verstrickt hatten. Für Johanna gab es nur eine Rasse – die menschliche. Einige seiner Anhänger entschuldigten Steiners Idee mit dem Geist jener Zeit um den Ersten Weltkrieg.
Von Steiners Thesen zur Landwirtschaft wusste sie nichts. Sie nahm an, dass es Thomas ähnlich ging. Thomas wollte lernen, wollte zu seinem Wissen über biologischen Weinbau |181| das über den dynamischen erkunden. Sie freute sich, dass er ihr angeboten hatte, sie mitzunehmen.
Johanna trat auf den Balkon und sah, wie der Junge, wie sie ihn im Stillen nannte, unter ihr aus dem Haus trat und durch den Schein der Straßenlaterne zu seinem Auto ging. Er hatte sich an die Absprache gehalten. Das hierarchische Verhältnis zwischen ihnen hatte sich von allein verflüchtigt. Er war bei genauer Betrachtung ihr Schüler oder Student, ihr Auftraggeber und jetzt sogar Partner. Als er die Wagentür öffnete, stutzte sie und holte ihre Brille. Jetzt sah sie den Mann hinter dem geparkten Mazda genau, er stand außerhalb des Lichtkegels der Laterne. Der Mann hielt einen Gegenstand vors Gesicht. War es eine Kamera? Als Thomas den Motor anließ, war der Mann verschwunden, stattdessen hörte sie, wie ein zweiter Motor angelassen wurde und der Mazda mit Abblendlicht dieselbe Richtung einschlug wie ihr junger Student. Sie hatte den Eindruck, dass der Mazda hinter ihm herfuhr. Aber wer konnte wissen, dass sie sich heute hier getroffen hatten?
Die Straße lag im Dunkeln. Bingen hatte die Bürgersteige hochgeklappt, hinter zugezogenen Gardinen flimmerte das blaue Licht der Fernsehgeräte, und die Nachtwächter mit Hellebarde und Handlaterne zogen um die Häuser.
Das Gespräch hatte sie wach gemacht, und sie beschloss, sich an den Schreibtisch zu setzen und noch einmal die Vorlesung durchzugehen, die sie in Bingen halten würde. Da bemerkte sie, dass die Balkonblumen welkten, sie nahm die blaue Gießkanne und füllte sie im Badezimmer. Sie gab den Pflanzen viel zu viel Wasser, sie war nicht wirklich bei der Sache, das Gespräch rumorte in ihr. Thomas Achenbach hatte gesagt, dass Manuel bei ihnen und in ihrem gemeinsamen Projekt einen Halt, ein Ziel und Hoffnung gefunden hatte.
Im Vergleich dazu sah es bei ihr düster aus. Sie lebte in den Tag, ihr Halt war der Rhythmus der Lehrpläne auf der jeweils falschen Seite des Rheins, der Tagesablauf war nicht |182| selbstbestimmt, und sogar die Ziele hatten wenig mit ihr zu tun. Sie bildete junge Leute aus für eine Zeit, der sie wahrscheinlich nicht gewachsen sein würden. Sie hatte das dumme Gefühl, sich lediglich an der weltweiten Beschwichtigungsshowzu beteiligen.
Thomas Achenbach hatte von Hoffnung gesprochen. Worauf wollte sie hoffen? Dass sie wieder mit Carl zusammenkam, dass sie zusammenlebten, ihr Leben teilten und sich liebten? Träumte sie vom kleinen Glück im kleinen Haus? Nein. War man nicht erst frei, wenn man auch frei von Hoff nung war und dem folgte, was in einem selbst nach außen drängte? Dann
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