Riesling zum Abschied
Begegnung ließ ein Gefühl entstehen, da reichte die Spannweite von Liebe auf den ersten Blick bis zu völligem Abscheu. Eher zwischen Indifferenz und Abneigung hatten die Begegnungen mit Marquardt und dem Chemiker gelegen, mit dem Forschungsmakler und Rechtsanwalt Vormwald, an die sie sich in diesem Moment erinnerte und die gar nicht hierher passten. Wenn der Mensch nicht nur naturwissenschaftlich betrachtet wurde, wenn er eine Seele hatte, ein Bewusstsein, sie war wieder bei Steiner angekommen, wieso sollte das nicht auch für andere Lebewesen gelten? Aber ein Zweifel blieb immer – und eigentlich wusste man gar nichts. Man konnte letztlich nur herumprobieren.
Das taten sie nach der Rückkehr in die Kellerei. Die Weine stammten von den Lagen Oestricher Doosberg, einem humosen und tonigen Weinberg. Der Riesling vom Mittelheimer St. Nikolaus, der hundertfünfzig Meter vom Ufer des Rheins entfernt wuchs, auf reinem Löss, war ein von den Aromen her intensiver und dichter Wein. Bei der Nähe zum Rhein als Wärmespeicher begannen der Austrieb und die Blüte früh, die Reifeperiode war lang, die Trauben hatten viel Zeit, ihre Aromen zu entwickeln, und ließen den Wein sehr vielschichtig werden. Johanna hörte zu, wie Thomas und der Winzer darüber sprachen.
Vom Oestricher Lenchen stammten ein Kabinett und eine Spätlese, eine Auslese und auch die sehr süße und fruchtige Beerenauslese. Aber ein trockener Riesling mit dem Namen Quarzit gefiel ihr am besten. Ob es der Beste war, wusste sie nicht zu sagen, darauf kam es ihr nicht an. Der Duft erreichte ihre Nase sogar beim Einschenken. Der Wein war herb, er war fruchtig, er war grün, vordergründig erinnerte er sie an Apfel, hintergründig an Gräser, sie sah den Hang oberhalb von Rüdesheim vor sich und empfand das Traubenaroma als besonders deutlich, wesentlich prägnanter als bei anderen Weinen dieser Rebsorte.
|188| »Damit können die wenigsten Weintrinker umgehen«, merkte der Winzer an, und Johanna sah Thomas bewundernd das Gesicht verziehen, als er hörte, dass dieser Wein im Stahl vergoren war und nicht im Stückfass.
»Ein Trauerspiel, dass Manuel das nicht schmecken kann, er wäre begeistert.«
Das ungewöhnlichste Geschmackserlebnis seit Langem war der Amphorenwein. Besonders biodynamisch produzierende Winzer wie Kühn probierten diese uralte Methode aus. In Georgien, dem Ursprungsland dieser Technik, wurden die Amphoren im Freien vergraben und nach der Lese mit Trauben gefüllt. Dann überließ man das Ganze mindestens den Winter über sich selbst. Kühn hatte Amphoren in Drahtkörbe gestellt und den freien Raum ringsherum mit Ton ausgefüllt. Anschließend war der abgepresste Most hineingegeben worden. Verschlossen wurde es mit einem Deckel, zum Abdichten diente eine Art Talg.
Um diesen dunklen, mehr als goldgelben Weißwein richtig zu beschreiben, hätte Johanna am Sensorikseminar teilnehmen müssen. Sie merkte einmal mehr, dass Studenten wie Thomas ihr darin überlegen waren. Wenn sie an der FH bleiben wollte, würde sie nicht umhin kommen, ihr Geschmacksempfinden zu vervollkommnen – und davon war sie weit entfernt. Sie wusste, was oxidative Geschmacksnoten waren, sie ließen sich leicht von Fruchtaromen unterscheiden, aber dann gab es wieder Primär- und Sekundärnoten, und auf die Rebsorte wäre sie bei diesem Wein sowieso nie gekommen. Mehr als fünf Aromen pro Wein sollte man nicht wahrnehmen können. Drei hätten ihr bereits genügt. Der Riesling dagegen war klar, er war für sie immer strahlig und fest.
»Sie haben wahrscheinlich über Riesling auch nur das im Kopf, was der Mainstream behauptet. Bitte, betrachten Sie das nicht als Beleidigung«, schob Thomas schnell nach, als er Johannas Erstaunen bemerkte. »Unser Geschmacksempfinden |189| ist krank. Ein moderner Riesling wird scharf vorgeklärt, durch Reinzuchthefen aromatisiert, er wird kalt vergoren, filtriert, mit Enzymen und Schwefel traktiert, die Säure wird reduziert, bis nichts mehr von ihm da ist. Solche Weine haben keine Ähnlichkeit mit denen, die wir eben probiert haben, und das gilt nicht nur für diese Rebsorte.«
Draußen vor der Kellerei blieb Thomas stehen und blickte zurück. »Der Mann hat recht«, sagte er nachdenklich. »Wir sind entmündigt worden, die Natur genau wie wir. Das Industriesystem hat die Welt überzogen, ein anderes wird nicht mehr zugelassen. Dem haben sich Menschen und Pflanzen unterzuordnen. Eine Diktatur kann man das nennen.«
»Und wie ist es mit
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