Riesling zum Abschied
musste sie sich weiter dem Absurden hingeben, der Gegenwart, wie sie war, ihren Widersprüchen, ihrer Zerrissenheit und der Entzweiung, wie es Albert Camus in seiner Existenzphilosophie gesagt hatte? Man sollte wissen, wie man fliehen konnte oder warum man blieb.
Blieben in den Jahrzehnten des Älterwerdens alle Träume auf der Strecke? Heute verstand sie ihre Eltern, die sie als junges Mädchen hatten mäßigen wollen, als sie bei dem Versuch, vieles zu ändern, gegen Mauern und Knüppel gerannt war.
»In Deutschland veränderst du nie etwas.« Den stereotyp wiederholten Satz ihres Vater hatte sie gehasst – und ihn neuerdings wieder im Ohr. »Die Leute wollen so sein, wie sie sind. Demokratie ist etwas zum Mitmachen, und dafür ist die große Mehrheit zu träge. Und sich für andere einzusetzen ist verlorene Liebesmühe. Kaum drehst du dich um, lachen sie dich aus. Und dann steht immer einer da, der sie dazu anstachelt, und den wählen sie.«
Eine ähnliche Sicht hatte Thomas Achenbach in Bezug auf die Reaktion seiner Umgebung. Sein Bemühen um Manuel Sterns Freilassung wurde kritisiert oder belächelt. Sie wunderte sich über Thomas. Dieser Bengel hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Das Schrillen des Telefons riss sie aus den Gedanken. Sie sprach eine knappe Stunde mit Carl und wehrte sich, nachdem sie den Hörer leise zurückgelegt |183| hatte, gegen die Freude, dass er sich fürs Wochenende angemeldet hatte, und sofort ärgerte sich wieder über ihre dumme Reaktion. Das machte sie wach, und so setzte sie sich wieder an den Schreibtisch, nahm Steiners »Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft« und las, bis ihr die Augen zufielen.
Das Weingut lag am Ende des Ortsausgangs von Oestrich-Winkel, wo die Weinberge begannen. Die Rebzeilen neben der Kellerei machten den Geist dieses Hauses offenbar. Da war nicht ein Zentimeter Boden zwischen den Rebstöcken unbegrünt. Als Johanna aus dem Wagen stieg, sah sie den Rücken einer Gestalt zwischen den Reben. Hätte der Austrieb der Weinstöcke der Jahreszeit entsprochen, wäre Thomas nicht zu sehen gewesen, aber der Wein war bislang über den Sieben-Blatt-Status nicht hinaus. Der Student kniete in der vordersten Rebzeile, mit der Nase am Boden wie ein Hund. Wollte er mit einer Lupe das Bodenleben erforschen und dabei das Gleichgewicht in diesem Weinberg prüfen, den Milben und den auf sie angesetzten Raubmilben nachspüren? Sie hätte sich nicht gewundert, so wunderlich wie Thomas ihr manchmal erschien. Aber es war eine Kamera. Egal, worum es sich handelte, der Junge nahm auf, lernte, sog in sich ein, hörte zu und beobachtete. War sie in seinem Alter anders gewesen?
Johanna winkte Thomas, er kam zu ihr, sie begrüßte ihn freundlich, und nebeneinander, fast schon vertraut, gingen sie auf dem sacht ansteigenden Weg zum Empfangsraum für Gäste und Kunden. Große Glasflächen statt Mauern ließen alles offen, nichts wurde verborgen, und so ähnlich empfand Johanna das Gesicht des gut gelaunten Winzers. Ohne lange Vorrede ließ Kühn seine Gäste in den Lieferwagen einsteigen und fuhr hinauf in die Weinberge.
Der Boden war für den Winzer das alles Entscheidende, so wie andere Winzer ihr eigenes Tun für den entscheidenden |184| Faktor hielten, wieder andere sahen das Heil in der Rebsorte, die nächste Gruppe schwor auf besondere Klone oder eine Mischung davon, dann wieder wurde der besondere Laubschnitt favorisiert. Doch für biodynamisch orientierte Winzer war der Boden das Nonplusultra. Schließlich brachte die Erde das Leben hervor.
»Die Industrie nimmt immer mehr Einfluss«, sagte Kühn, während sie langsam durch die Weinberge fuhren. »Sie uniformiert alles, nicht nur den Weinbau, auch die Supermärkte, die Metzger und Bäcker. Was wird da produziert? Backlinge. Wir sind entmündigt worden, die Natur genau wie wir, und dadurch schaffen wir Monotonie in allem, auf dem Land, in den Städten, und das macht uns im Grunde mit dem Leben unzufrieden.«
Johanna merkte, wie sie auf eine Aussage des Winzers wartete, der sie widersprechen konnte. Bei der nächtlichen Lektüre war ihr Rudolf Steiner gegen den Strich gegangen. Aber mit dem, was der Winzer sagte, stimmte sie überein. Thomas schwieg und schaute, er war wie ein Schwamm, der alles in sich aufsog.
Sie hielten an einem Platz mit mehr als mannshohen Wällen heller Erde. Johanna genoss den weiten, freien Blick hinunter ins Rheintal, über Oestrich-Winkel auf den in der
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