Riesling zum Abschied
»Na endlich! Erzähle mir alles, was du von Alexandra weißt. Alles, absolut alles, nichts darfst du auslassen. Hatte sie vielleicht – noch einen anderen?« Thomas machte eine Pause, in der sie sich lange ansahen, bis Manuel wegschaute. »Wehre dich nicht gegen die Frage, nur weil du das nicht wahrhaben willst. Du willst raus, also reiß dich zusammen! Ich will dich hier nicht rausholen, um dich anschließend in der Psychiatrie abzugeben. Kennst du ihre Freunde? Mit wem hat sie verkehrt? Nur wer die richtigen Fragen stellt, bekommt die richtigen Antworten. Der Grund für ...« Thomas ballte die Faust und deutete einen Schlag an, »der Grund dafür liegt bei ihr, irgendwo in ihrer Person, in der Beziehung zu jemandem, den sie kannte ...«
»Noch drei Minuten«, sagte der Schließer mit Blick auf seine Armbanduhr, »verabschieden Sie sich.«
Thomas nahm einen C D-Player nebst Kopfhörer aus einer Plastiktüte und legte sie vor sich auf den Tisch. »Das Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll Opus 11 von Chopin auf CD, damit dir die Töne im Gedächtnis bleiben. Alles genehmigt, ausgehändigt wird es dir später.« Dann zog Thomas eine Hülse aus der Tüte, rollte den darin enthaltenen Papierstreifen vor sich aus und strich ihn glatt. Es war die aufgezeichnete Tastatur eines Klaviers oder Flügels. »Falls dir die Finger steif werden, kannst du Trockenübungen machen. Wir wollen dich in Eberbach hören. Enttäusche uns nicht. Spiel leise, im Geist, Zeit hast du ja genug. Nur wer aufgibt, verliert.«
Manuel starrte ihn mit offenem Mund an. »Aber da höre ich mich ja gar nicht.«
»Na und?«, sagte Thomas, »Beethoven hat auch ohne Gehör gespielt und sogar komponiert, und der war stocktaub, der hatte, wie er sagte, Dämonen im Ohr.«
Plötzlich stand der Schließer hinter Manuel. »Die Besuchszeit ist beendet!«
Er tippte Manuel auf die Schulter, und Manuel stand auf, |196| schaute Thomas lange an und nickte, dann drehte er sich weg.
Thomas war sich nicht sicher, ob er es tat, damit niemand seine Tränen sah. Manuel wurde beim Hinausgehen durch eine andere Tür geführt als beim Hereinkommen. Würden sie ihn jetzt filzen? Ja, er hatte ihm trotz Trennscheibe etwas zugesteckt, etwas, das nützlicher war als jede Säge oder jeder Nachschlüssel: Gedanken hatte er ihm zugesteckt, ihm Mut und vielleicht Hoffnung gemacht.
Von Weiterstadt aus raste Thomas zurück nach Geisenheim. Natürlich kam er zu spät in die Vorlesung und setzte sich provokativ neben Regine. Sie wirkte bedrückt, und erst nachdem Thomas sie später bedrängt hatte, war sie bereit, sich am Abend mit ihm zu treffen. Der Mann, den sie vor ihm versteckte, übte keinen guten Einfluss aus. Dann druckte Thomas Studienunterlagen für Manuel aus, steckte alles in einen Umschlag und brachte ihn zur Post. Da würden die Kontrolleure im Knast was über Weinbau lernen. Danach hetzte er zur nächsten Vorlesung. Dann jagte er atemlos nach Schloss Johannisberg. Johanna Breitenbachs Andeutungen über Vormwald waren nicht gerade vielversprechend.
Kaum hatte Thomas den Wagen in der Schlossallee unter den Platanen abgestellt, meldete sich sein Mobiltelefon. Es war Vormwald. Er kündigte an, dass er eine Stunde später erscheinen würde, wichtige Klienten hätten ihn aufgehalten. Das konnte passieren, doch Thomas verstimmte, dass der Anwalt kein Wort der Entschuldigung vorbrachte. Sonst regen sich die Alten über das schlechte Benehmen der Jugend auf, dachte er, hier ist es umgekehrt, und ärgerlich steckte er sein Telefon weg. Aber die Verzögerung hatte ihr Gutes: Er konnte sich endlich mal das Weingut anschauen.
Den majestätischen Bau kannte er bislang nur aus der Ferne. Aristokratisch thronte er auf einem Berg aus Quarzit über den mit Reben bestockten Hängen, die langsam aus |197| der Ebene vom Elsterbach ansteigend zum Schloss hin steiler wurden, sodass die Reben jeden Sonnenstrahl von morgens bis abends einfangen konnten, ausgerichtet von Ost nach West. Das Schloss war der markanteste Punkt im Rheingau, neben dem Oestricher Kran. Er wusste, dass der Gutsverwalter auch Önologe und ehemaliger Geisenheimer war. Davon gab es inzwischen knapp dreitausend, sie hatten einen guten Ruf, und sie ackerten von Argentinien bis Neuseeland, in Büros, Kellern und Weinbergen.
Fuhr man auf der Schnellstraße von Westen am Johannisberg vorbei, sah man nur das Zentralgebäude und den westlichen Seitenflügel, kam man von Osten, fiel besonders der mächtige Turm der
Weitere Kostenlose Bücher