Riesling zum Abschied
neo-romanischen Kirche auf. Das älteste Rheingauer Kloster, nach der ersten Jahrtausendwende gegründet und dem jeweiligen Baustil der Epoche angeglichen, wurde 1942 bei einem britischen Fliegerangriff auf Mainz zerstört – bis auf die Fässer und die Weinflaschen in den Kellern. Paul Fürst Metternich hatte alles aufbauen lassen, und die jetzigen Besitzer, der Oetker-Konzern, hielten es instand.
Langsam ging Thomas auf das Tor zwischen zwei dreistöckigen Gebäuden zu, die ihn an Barockbauten erinnerten. Das zweistöckige Hauptgebäude dahinter und die Seitenflügel zeigten strengere Linien, und obwohl auch hier Fenster, Türen und Tore sowie deren Einfassungen weiß abgesetzt waren, meinte er neo-klassizistische Elemente zu entdecken. Aber davon verstand er wenig, Architektur war nie sein Ding gewesen. Die einstöckigen Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäude rechts mit runden Bögen und Fenstern entsprachen wieder mehr dem Barock, wozu auch die Rosenstöcke unter den Fenstern der ockerfarbenen Wände passten.
Er suchte den Weg zur Vinothek, auf einem Weingut dieser Größenordnung musste es sie geben, wenn sogar sie auf ihrem kleinen Weingut sofort nach der Übernahme einen Probierraum eingerichtet hatten.
|198| Die Fürsten Metternich hatten als damaliger Besitzer des Weingutes bereits 1812 angeordnet, ihre Qualitätsstufen durch Farben kenntlich zu machen. Hatte Lack früher zum Versiegeln der Flaschen gedient, war er heute ein Zeichen für die unterschiedlichen Qualitäten geworden, das sich auf den Kapseln wiederfand. Gelblack stand für die Qualitätsweine, die Hälfte des gesamten Angebots. Die als Rotlack deklarierten Kabinettweine, egal, ob sie trocken oder mit der neuen Bezeichnung feinherb ausgebaut waren, kamen auf fünfzehn Prozent, und dann wurde die Luft dünn. Bei den folgenden Weinen gingen die Mengen nach unten und die Preise nach oben. Die Spätlesen bekamen Grünlack auf die Kapsel, bei den Ersten Gewächsen war es eine silberne, den Silberlack symbolisierende Kapsel. Ganz oben auf der Skala stand Eiswein – als Blaulack zu dreihundert Euro die Flasche.
Neben dem Probieren der Weine war Thomas an einer Führung durch die Keller interessiert. Er würde Studienkollegen zusammentrommeln müssen und dann mit dem Verwalter oder dem Domänenrat, wie es hieß, reden – als Ehemaliger würde er ihnen bestimmt einen auch für BAfö G-Empfänger akzeptablen Preis machen.
Bis zum Eintreffen des Anwalts war noch Zeit. Thomas fragte in der Gutsschänke nach einem reservierten Tisch und wurde ans Geländer der Terrasse gewiesen. Der Blick war grandios und um Klassen weiter und besser als der aus den Fenstern von Alexandras Apartment.
Am Fuß der Besucherterrasse begannen die Rebzeilen und fielen nach Süden hin erst steil ab und liefen flach zum Geisenheimer Stadtteil Johannisberg hin aus. Bis dahin war alles Riesling. Fünfunddreißig Hektar davon gehörten zum Schloss. Thomas erinnerte sich lächelnd an die Bedeutung der Buchhalter für die Historie. Anhand alter Rechnungen ließ sich vieles rekonstruieren, hier war durch Rechnungen aus den Jahren 1720 und 1721 der Kauf von genau 292 950 Riesling-Rebstöcken belegt. Es war der Beginn der Ausrichtung |199| des Rheingaus auf diese Rebsorte, gleichzeitig ein Indiz für eine fundamentale Änderung der Anbautechnik, denn bis dato war Mischbesatz mehrerer Rebsorten statt nur einer bevorzugt worden. Gegenwärtig waren achtzig Prozent der dreitausendzweihundert Hektar Rebfläche des Rheingaus damit bestockt.
Wäre der Anlass nicht so unangenehm gewesen, es hätte ein Nachmittag zum Genießen sein können. Die Sonne schien warm, es ging ein leichter, warmer Wind. Die Terrasse war nur mäßig besetzt, die Gäste unterhielten sich leise. Nichts störte die Beschaulichkeit, nichts störte das Bild aus Wasser, Erde, Wein und Himmel. In diesem Moment der äußeren Ruhe spürte er seine innere Unruhe, sein Flattern und seine Angst, Fehler zu machen. Seit dem Besuch in Weiterstadt grauste es ihm bei dem Gedanken, Manuel dort zu wissen. Dass seine Zelle stank, war für ihn sicher, Gefängnisse mussten stinken, Fenster ließen sich nicht öffnen.
»Herr Achenbach?«
Der Mann in Schwarz musste der Anwalt sein. Thomas stand schnell auf, um seine Verwirrung zu überspielen und mit ihm mindestens auf Augenhöhe zu sein. Ohne Thomas die Hand zu geben, setzte der Anwalt sich schnell ihm gegenüber an den Tisch und griff mit geübter Hand zur Speisekarte.
»Sie
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