Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
weiß nicht, ob Sie dieses Phänomen schon bemerkt haben, ganz oft erzählen einem die Leute, die ein Problem haben, dass sie zwei haben. Wo doch das Problem, das sie wirklich haben, bereits ziemlich heftig ist. Es gibt auch Leute, die gar nichts sagen. Sie können im schlimmsten Elend leben und reden übers Wetter. Und eines Tages explodiert die Kugel in ihrem Bauch.
Die Sache ist, dass Yéyé einfach zu viel Zeit hat, um uns mit seinen Geschichten vollzutexten. Normalerweise ist Freddy Tanquin auf dem Schulweg mit von der Partie und schließt sich uns zwei Häuserblocks weiter an. Da er jedoch wegen der missglückten Darbietung seines Baudelaire-Gedichtsvon der Schule geflogen ist, wartet er am Fenster auf uns.
»He, Jungs!«
»Wie geht’s Baudelaire?«
»Super geht’s dem … Schönen Tag!«
»Dir auch.«
Es tut weh, ihn so am Fenster zu sehen, mit seinem Schal um den Hals.
Ein Stück weiter kommt das Viertel mit den Einfamilienhäusern. Hier in der Ecke gibt es eine Menge: Kleine Häuschen mit Garten, die schon lange da stehen. Es muss seltsam gewesen sein, als die Türme noch nicht da waren. Vielleicht war es sogar schön. Wie eine friedliche Stadt. Eine Stadt, die nicht weiter auffällt. Heute wirken die kleinen Häuser so, als hätten sie Angst vor den Türmen. Und die Türme wirken so, als würden sie sich über die kleinen Häuser lustig machen. Alles eine Frage der Größenverhältnisse. Und ich weiß, wovon ich rede, schließlich bin ich selber klein. Die Straßen in dem Viertel mit den kleinen Häusern tragen die Namen von Blumen. Wie
Mimosenstraße
. Oder
Fliederallee
. Auf die Wohntürme pappt man die Namen von Dichtern, als würde sie das schöner machen. Und auf die kleinen Häuser die Namen von Blumen, als würden sie dadurch besser riechen. Aber ich schwöre Ihnen – es stinkt dort. Wenn ich an einem dieser Häuschen vorbeigehe und einen alten Mann in seinem Garten sehe, denke ich mir, der hat bestimmt ganz schön blöd aus der Wäsche geguckt, als er sich eines Tages umgedrehthat und direkt vor der Nase den Turm hatte. Ganz schön viel Schatten auf einmal! Ich stelle mir immer vor, dass die Türme aus dem Nichts aufgetaucht sind, eines Nachts. Aber vom Himmel gefallen sind sie natürlich nicht. Schon wegen der Vögel nicht. Oder wegen der Sonne. Weil es ja immer heißt, der Himmel ist schön. Ich sehe die Türme eher aus dem Boden wachsen. Seit langer Zeit waren sie im Innern der Erde fertig. Und häufig sind gerade solche Gebäude von wildem Gelände umgeben.
Als käme die Erde nicht darüber hinweg, solche Monster geboren zu haben.
Manchmal bekomme ich richtig Kopfschmerzen von meiner Phantasie, sage ich Ihnen. Bestimmt ist all der Blödsinn schuld daran, der im Fernsehen läuft. Ja, ich glaube, es sind die Filme, die meine Phantasie anstacheln. Fernsehen wühlt mich auf, mehr als alles andere. Ich komme von Chopin auf Yéyé, von den kleinen Häusern aufs Fernsehen – genauso wie ich zappe. Ich kann keine zwei Sekunden vor demselben Bild sitzen bleiben. Wie ein Idiot drücke ich ständig auf die Fernbedienung, während mein Bein flattert und ich auf sämtlichen Fingern rumkaue.
Was ich Ihnen erzählen wollte, ist, dass es trotzdem einen Unterschied zwischen den Jungs aus den Wohntürmen und denen aus den kleinen Häusern gibt. Geld spielt dabei gar keine große Rolle. Könnte man zwar meinen, ist aber nicht so. Vielleicht haben die in den kleinen Häusern ein wenig mehr davon. Aber nicht einmal das istsicher. Neulich habe ich zwei älteren Frauen zugehört, die sich über die Reichen unterhielten, und die eine sagte:
»Wenn ein Typ eine Million hat und ein anderer zwei, dann ist nicht unbedingt derjenige, der nur eine hat, der Unglücklichere!«
Sehen Sie, und für uns gilt das Gleiche, nur eben aus einer anderen Perspektive.
Aber ich war beim Alltag in unserem Viertel stehengeblieben. In der Cité verabredet man sich nicht, man trifft sich – wo, entscheidet der Zufall. In der Eingangshalle. Im Park. Im Einkaufszentrum. Auf dem Dach. Auf dem Basketballfeld. Oder man begegnet sich im Aufzug und beschließt, gemeinsam loszuziehen. Das Leben ist nicht auf unsere vier Wände beschränkt. Wir verbringen viel Zeit draußen, teilen uns das riesige Gelände.
Das Leben in einem Einfamilienhaus läuft anders. Wenn die Jungs einmal zu Hause sind, kommen sie da nicht mehr raus. Sie bleiben im Garten. Treffen können sie sich nur mittwochs oder an den Wochenenden. Sie kapseln sich immer
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