Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
… Nein.«
Schon ein bisschen dürftig, dass ich darauf nicht mehr zu sagen wusste, aber solche Smalltalks finde ich schnell anstrengend. Abgesehen davon denke ich ständig daran, was ich später mal machen möchte. Und daher wäre der ganze Abend draufgegangen, wenn ich angefangen hätte, das zu erklären, und der Fisch wäre noch kälter geworden.
Während ich die Fragen ihrer Mutter beantwortete, fiel mir auf, dass Mélanie mich gar nicht ansah. Selbst wenn ich es war, der sprach, blickte sie ihre Mutter an. Ich hätte mir einreden können, dass sie sich langweilte, aber da ich ein sensibler Junge bin, stellte ich fest, dass sie wohl ziemlich schüchtern war. Ich bin auch schüchtern, aber nicht die ganze Zeit. Und leider weiß ich nie, wann ich es sein werde. Es hängt davon ab, wem ich gegenübersitze. Es gibt Leute, die bringen einen zum Verstummen. Und dann gibt es andere, die kennt man kaum, und schon würde man ihnen eine Niere spenden. Mélanie ist die ganze Zeitschüchtern. Egal, wen sie vor sich hat, sie ändert ihr Verhalten nicht. Und das führt seltsamerweise dazu, dass sie sehr gefestigt wirkt. Was ich an ihr liebe, ist, dass sie immer rosa Wangen hat. Das ist zum Sterben schön. Und außerdem braucht sie sich später dann nicht zu schminken.
Nun stellte meine Mutter Mélanie Fragen, nach dem Motto, auch ich interessiere mich für Ihre Tochter.
»Und du, Mélanie, gehst du gern zur Schule?«
»O ja, sehr.«
»Und weißt du schon, was du später einmal werden möchtest?«
»Ich mag Ballett sehr.«
Sofort sah ich mich im ersten Rang eines großen Theatersaals, während sie auf der Bühne tanzte. Ich war ihr Ehemann, der gekommen war, um sie zu unterstützen. Während am Ende tosender Applaus aufbrandete, warf sie mir innige Blicke zu.
Der Kellner brachte das Sushi für Mélanie und ihre Mutter. Wir wünschten ihnen einen guten Appetit, und alle zogen sich wieder zurück, so als hätte man einen Vorhang zwischen den beiden Tischen zugezogen. Obwohl wir uns dann nicht mehr zu viert unterhielten, fand ich es unglaublich, den ganzen Abend neben Mélanie und ihrer Mutter verbringen zu dürfen. Ein Glücksabend.
Etwa eine Stunde später standen Mélanie und ihre Mutter auf, sie waren fertig und wollten sich von uns verabschieden.
»Also dann, noch einen schönen Abend, und bis bald!«
»Auf Wiedersehen, Madame Renoir, wir laufen uns sicher mal in der Schule über den Weg.«
Meine Mutter versteht sich auf höfliches Benehmen.
Mélanie verabschiedete sich ebenfalls von meiner Mutter und warf mir dann einen hastigen Blick zu.
»Salut.«
»Salut.«
Ich sah sie nicht weggehen, weil ich sehr konzentriert auf meinen Teller schaute. Mir war ganz schlecht, und ich war todunglücklich, dass sie fort waren. Ich sah zu ihrem Tisch hinüber, zu Mélanies Serviette und ihrem leeren Stuhl. Vor ein paar Sekunden hatte sie noch dort gesessen! Alles war besser als der gegenwärtige Augenblick. Seit sie weg war, wirkte der ganze Raum traurig. Sogar ihrem Stuhl schien sie zu fehlen.
Dass ich spüre, wenn mir etwas fehlt, passiert mir oft – das ist eines meiner Probleme. Es ist ähnlich wie mit meiner Phantasie. Ich stelle mir Dinge genauso schnell vor, wie mir Leute fehlen. Mein Bruder Henry zum Beispiel fehlt mir oft. Er ist ein absoluter Vollidiot, ich weiß, aber wenn ich im Bett liege, abends, vorm Einschlafen, und beschließe, dass er mir fehlt, dann fange ich sofort an zu weinen.
Meine Mutter und ich haben unser Essen beendet, ohne von Mélanie zu reden.
Um nach Hause zu gelangen, müssen wir den Bus nehmen. Das Kino ist drei Haltestellen entfernt. Manchmal gehen wir auch zu Fuß, aber diesmal nahmen wir denBus. Normalerweise schlafe ich nach der Hälfte der Fahrt ein, weil ich so geschafft bin, aber nachdem ich so einen schönen Abend hatte, war ich noch total fit. Meine Mutter schaute zum Fenster hinaus, vielleicht weil sie hoffte, Henry irgendwo im Viertel zu entdecken, doch dann bemerkte ich, dass auch meine Mutter an Mélanie dachte.
»Gefällt dir dieses Mädchen?«
»Welches Mädchen?«
»Mélanie!«
Ich sagte Ihnen ja: Sie liest in meinen Gedanken wie in einem offenen Buch.
»Nein … Ich finde sie ganz nett, das ist alles.«
Meine Mutter begann zu lachen.
»Und ob sie dir gefällt!«
Meine Mutter hat eine irrsinnige Lache. Sie hat eine tiefe, hauchige Stimme, und wenn sie lacht, klingt es, als würde der Wind zu brausen beginnen.
»Warum sagst du so was?«
»Weil ich es weiß, ich
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