Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
du weißt ja, wenn man hier jemanden finden will, muss man ihn wirklich suchen, sonst sieht man ihn nicht.«
»Stimmt.«
»Bist du gar nicht in der Schule?«
»Nein … Ich konnte nicht hingehen.«
»Warum nicht?«
»Heute Morgen haben die Bullen meine Mutter mitgenommen.«
»Deine Mutter!«
»Ja, genau.«
»Was hat sie getan?«
»Keine Ahnung, deshalb suche ich ja meinen Bruder.«
»Sollen wir ihn zusammen suchen gehen?«
»Ja, gern!«
Jetzt, wo wir zu zweit waren, hatte ich keine Angst mehr. Wir sind durch das Loch geklettert und standen in dem gespenstischen Einkaufszentrum. Offensichtlich kannte sich Freddy hier sehr gut aus. Man hat die Hand nicht vor Augen gesehen, und ich musste dicht hinter ihm bleiben, um nicht hinzufallen.
»Kommst du oft hierher, Freddy?«
»Jeden Tag … Ich besuche meinen Großvater, der auf der anderen Seite wohnt. Wenn ich außen herum gehe, brauche ich zwei Stunden!«
»Kümmerst du dich um deinen Großvater?«
»Nein, er gibt mir Nachhilfe in Mathe und so, seitdem ich von der Schule geflogen bin … Er ist ein ziemliches Ass in Mathe, zumindest glaubt er das, dabei kann er kaum noch bis zehn zählen …«
»Warum gehst du dann trotzdem noch hin?«
»Um meiner Mutter einen Gefallen zu tun, und damit ich mal ein bisschen Abstand habe … Jedenfalls setze ich keinen Fuß mehr in die Schule, das steht fest, dieser ganze Blödsinn gehört der Vergangenheit an … Vor fünfzig Jahren mag das ja noch okay gewesen sein, aber in der Welt der Zukunft werden Typen, die zur Schule gegangen sind, sofort eingehen.«
»Warum?«
»Weil man wissen muss, wie man nach einem Atomschlag überlebt, deshalb … Wenn du dir die Nachrichten im Fernsehen ansiehst, begreifst du schnell, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis einer aufs Knöpfchen drückt … Und weißt du, was dann passiert?«
»Nein.«
»Dann ist alles von Staub bedeckt … Milliarden, Abermilliarden Tonnen Staub … Und ich sage dir: Du kannst noch so viele Gedichte kennen, das hilft dir gar nichts …«
»Und was hilft mir dann?«
»Typen wie ich … Typen, die in der Lage sind, dreißig Jahre unter der Erde zu leben, bis der Staub verschwindet …«
»Was wirst du denn essen während dieser dreißig Jahre?«
»Ratten!«
»Ratten?!«
»Na ja, ich hab ja nicht behauptet, dass das Leben einfach sein wird … Ratten sind ganz schön klug, weißt du … Sogar klüger als Menschen, das ist bewiesen … Die verschwenden ihre Zeit übrigens nicht damit, Gedichte auswendig zu lernen, sie leben nämlich schon unter der Erde und trainieren für das atomare Zeitalter …«
Freddy Tanquin. Ein Verrückter, der sich für ein Genie hält, oder ein Genie, das wie ein Verrückter rüberkommt. Aber ich war froh, dass er bei mir war, insofern habe ich mich zurückgehalten.
»Weißt du, wohin wir gehen?«
»Ja, keine Sorge. Wenn dein Bruder sich hier irgendwo rumdrückt, dann drüben bei Courchevel.«
»Was ist das, Courchevel?«
»Ein Skiort.«
»Hier im Einkaufszentrum?«
»Nein, in den Bergen.«
»Aha. Und warum heißt es dann hier Courchevel?«
»Da treffen sich die Drogies immer … Weil es da Schnee gibt … Du verstehst … Die Droge halt …«
Der Typ, der zum ersten Mal auf die Bezeichnung Courchevel gekommen ist, ist bestimmt wahnsinnig stolz darauf, dass die Leute jetzt seinen Begriff verwenden.
»Vielleicht arbeitet deine Mutter für die Regierung.«
»Wie?«
»Na ja … Warum sollten die Polizisten sie sonst verhaften …«
»Keine Ahnung!«
»Es gibt einen Haufen solcher Geschichten … Leute, die ein Doppelleben führen … Du glaubst, du kennst sie, aber in Wahrheit weißt du nichts über sie … Sie erfinden sogar eine Arbeitsstelle und so …«
»Aber nein, meine Mutter arbeitet bei den Rolands!«
»Das ist vielleicht nur ein Bluff.«
»Ich kenne die Rolands aber.«
»Sie sind vielleicht auch ein Bluff, wer weiß, ob sie nicht auch für die Regierung arbeiten.«
»Und warum kommt meine Mutter fast jeden Abend mit den Blumen nach Hause, die sie ihr geschenkt haben?«
»Das sind falsche Blumen.«
»Mann, Freddy, du bist doch total bescheuert – wenn hier jemand ein Bluff ist, dann du! Mit diesem ganzen Schwachsinn von wegen Atomkrieg und Spionen … Ich weiß genau, was für ein Leben meine Mutter führt … Wenn sie für die Regierung arbeiten würde, hätte sie mir das gesagt. Sie sagt mir nämlich alles, sie hat Vertrauen zu mir. Und die Blumen, die sie mitbringt, sind echt und riechen
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