Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
gut, und sie beschäftigt sich stundenlang damit, weil sie die Leute sehr gern hat, die sie ihr geschenkt haben … Außerdem hätten wir mehr Kohle, wenn meine Mutter eine Spionin wäre, wir würden anderswo leben, und ichmüsste nicht hier in diesem beschissenen Einkaufszentrum aufschlagen, um meinen Bruder zu suchen … Und du … Du erzählst das alles doch nur, weil du dich ärgerst, dass du dein doofes Gedicht nicht gelernt hast und deswegen von der Schule geflogen bist … Ich dagegen möchte alle Gedichte der Welt kennen und lieber sterben als unter der Erde leben und Ratten fressen!«
Normalerweise rege ich mich nicht so auf. Aber diesmal brachte Freddy mich wirklich auf die Palme mit seinen Geschichten, und nach all dem, was mir gerade zugestoßen war, musste ich ja wohl explodieren.
Immerhin beruhigte Freddy sich dadurch. Zum Glück gehört er zu den freundlichsten Menschen auf dieser Erde. Freddy ist einem niemals böse. Man kann aggressiv werden, er lässt einen trotzdem in Frieden. Und dann glaubt er auch noch, dass man recht hat und es sein Fehler war!
»Entschuldige, Freddy.«
»Nein, ich versteh schon, das ist normal. Deine Nerven liegen sicher blank.«
»Ja, genau.«
Wir kamen zum Ausgang Courchevel, der in nichts einem Skiort ähnelte. Ganz im Gegenteil, das Einzige, worauf man hier abzufahren schien, waren Bierdosen. Der ganze Boden war damit übersät, außerdem mit Spritzen und verrosteten Kaffeelöffeln. Es roch nach einer Mischung aus Pisse und Abwasserkanal. Das hier war nicht nur der schmutzigste Ort, den ich bisher gesehen hatte, vor allem war es der traurigste. Ich dachte an Henry, undsofort sind mir Tränen in die Augen gestiegen. Ich habe mich aber dann beherrscht, weil Freddy neben mir stand, obwohl er im Dunkeln nichts gesehen hätte.
Kennen Sie das: Wenn man weinen muss und es unterdrückt, bekommt man eine trockene Kehle.
Ich sagte mir, dass Henry an diesem trostlosen Ort war, während ich abends vor dem Einschlafen an ihn dachte. Wusste meine Mutter das? Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sie nie in Courchevel gewesen ist, aber Mütter wissen alles und malen sich immer das Schlimmste aus. Konnte man sich einen schrecklicheren Flecken vorstellen? Wäre Henry der Sohn von einem dieser Männer aus dem Rathaus gewesen, hätte man aus dem Einkaufszentrum längst ein Museum oder einen Park gemacht. Ich fragte mich, ob Henry an mich dachte, wenn er hier war.
Freddy kickte eine Bierdose weg.
»Okay, hier ist niemand, lass uns abhauen …«
In dem Augenblick, als die Dose gegen die Wand prallte, haben wir gesehen, wie sich weiter hinten etwas bewegte.
»Maul halten!«
Die Stimme ließ einen erschauern. Selbst Freddy zuckte zusammen.
»Das ist nicht dein Bruder, oder?«
»Nein.«
Freddy war mutiger als ich und richtete sich wieder auf, um die Leere vor uns anzusprechen.
»Wer sind Sie?«
»Und ihr, wer seid ihr?«
»Ich … ich bin Freddy Tanquin. Und das … das ist Charly Traoré.«
»Traoré? Bist du Henrys Bruder?«
»Ja, das ist mein Bruder. Ich bin gerade auf der Suche nach ihm.«
»Er ist nicht hier.«
»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
Es raschelte. Die Stimme, die mit uns redete, war anscheinend dabei, aufzustehen. Ein Fuß trat gegen Bierdosen und Löffel. Und dann kam er auf uns zu. Der Typ wog mindestens dreihundert Kilo und war zwei Meter groß. Wenn es plötzlich hell geworden wäre, hätte man unsere schreckensbleichen Gesichter gesehen. Ein Berg von einem Mann – der Name Courchevel musste daher stammen. Man konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen, aber es war auch so klar, dass wir es nicht mit einem besonders lustigen Zeitgenossen zu tun hatten. Aber an Orten wie diesem trifft man auch keine lustigen Menschen oder schmächtige Hemden mit Krawatte und Brille.
Der Typ starrte uns an, es schien ihm nicht gutzugehen, er bekam kaum Luft und hatte einen Atem, dass einem speiübel wurde.
»Wie heißt du?«
»Charly.«
»Stimmt, Charly … Henry hat mir von dir erzählt.«
»Echt?«
»Du bist sein kleiner Bruder.«
»Genau.«
»Er hat mir von dir erzählt.«
»Genau.«
»Henry liebt dich sehr.«
»Genau … Ich ihn auch!«
»Wieso treibst du dich hier rum?«
»Ich suche ihn.«
»Henry hätte es nicht gern, wenn er dich hier sehen würde.«
»Warum nicht?«
»Weil er dich gern hat.«
»Aber wenn ich ihn suche, muss ich ja wohl dorthin gehen, wo er auch hingeht.«
»Du bist ein cleveres Bürschchen!«
Ich sagte
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