Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
nehme einen Kieselstein, einen Karton, eine leere Getränkedose oder auch gar nichts und versuche es auf dem Rand des Bürgersteigs zu balancieren. Ich weiß nicht, was die Leute denken, die mich dabei beobachten. Wahrscheinlich, dass ich ziemlich bescheuert bin. Aber es ist mir eigentlich egal, denn ich weiß ja, was ich da tue.
Ich lief bis zum Parc Colette. Die Tore werden früh am Morgen geöffnet und bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen.
Der Park ist ganz neu angelegt, man hat das Gefühl, alles ist aus Plastik. Die Bäume, der Rasen, die Pflanzen.
Trotzdem finde ich es toll, dass es diesen Park gibt, und da wir uns ständig dort aufhalten, wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis er wie ein echter Park aussieht.
Letztes Jahr sind meine Mutter und ich zur Eröffnung gegangen. Es war schönes Wetter, es war Karneval.
Jedes Jahr Ende Mai wandelt die Cité für einen Tag ihr Gesicht. Ich weiß nicht, wie oft sich etwas wiederholen muss, um zu einer Tradition zu werden, wahrscheinlich kann man in dem Fall noch nicht davon sprechen, so und so ist jener Tag mein Lieblingstag.
Alle verkleiden sich während des Karnevals. Man kann anziehen, was man will, auch wenn die Schulen und die Stadtverwaltung ein bestimmtes Thema vorgeben.
Bisher hatten wir Venedig, dann Asien, Sport und Sportler, die Französische Revolution und, letztes Jahr, das Kino.
Es ist witzig, wenn einem Leute, denen man jeden Tag begegnet, auf einmal als Gondoliere oder als Sportskanone über den Weg laufen. Der dicke Kerl vom Schrottplatz etwa kam in dem Sportler-Jahr als Fußballspieler mit einem – mindestens – zehn Nummern zu kleinen Trikot an und mit Mokassins an Stelle von Stollenschuhen. Undseine Frau als Tennisspielerin war quietschvergnügt darüber, dass sie ihre Beine zeigen durfte.
Die Themen sind zwar festgelegt, aber sie werden immer ziemlich frei interpretiert. Es reicht schon, etwas anderes anzuhaben, um mitzufeiern. Manche binden sich nur eine Krawatte um. Setzen eine Sonnenbrille auf. Frisieren sich anders. Dann gibt es die Exhibitionistenfraktion, die packen die Gelegenheit beim Schopf, um endlich einmal unbehelligt nackt durch die Stadt zu laufen. So zum Beispiel die Familie Bissani, die sich jedes Jahr als Strandurlauber kostümiert. Mal geht es an den Strand von Venedig, mal an einen Strand in Asien, und auch während der Französischen Revolution ist man schließlich an den Strand gegangen. Die meisten Cité-Bewohner waren noch nie am Meer, das Einzige, was sie in der Richtung je gesehen haben, sind die Bissanis zu Karneval.
Ich habe beobachtet, dass fast alle im Viertel nur eine einzige Verkleidung besitzen, die sie sich fürs erste Mal zusammengesucht haben und nun jedes Jahr wieder herauskramen. Einige bemühen sich wenigstens, ihr Kostüm dem jeweiligen Thema anzupassen. Sie pappen zum Beispiel ein dreifarbiges Abzeichen auf einen Kimono. Oder ziehen Boxhandschuhe zum Casanova-Outfit an.
Meine Kumpels und ich gehören zur Kategorie der Leute, die sich überhaupt nicht verkleiden. Wir finden, dass wir keine Clowns sind. Was uns immer eine Standpauke der Stadtverwaltung einbringt:
»Ihr nehmt nicht teil am Leben im Viertel blablabla …«
Ich finde, wir nehmen auf unsere Weise sehr wohl daran teil. Wir sind schon von ganz allein ein ziemlich bunter Trupp!
Die Vorbereitungen dauern ungefähr einen Monat. Das gefällt der Schulleitung, endlich kann sie den Schülern einmal etwas bieten.
Auch Madame Tourtin, unsere Französischlehrerin, ist immer überglücklich, wenn sie uns verkünden darf:
»Kinder, jetzt fangen wir mit den Vorbereitungen für den Karneval an!«
Die ganze Klasse schreit dann: »Yipiiiie!!«
Was sogar ernst gemeint ist – denn es macht wirklich Spaß, Hunderte von Metern Krepp auszurollen, aus dem wir alle möglichen Ornamente und Banderolen schneiden.
Im Centre Guillaume Apollinaire übt das Orchester – eine schmetternde Blaskapelle und brasilianische Trommler – wochenlang die Stücke, die es an dem Tag spielen wird.
Die Stadtverwaltung organisiert außerdem einen Umzug durch das Viertel und, in Zusammenarbeit mit dem Polizeirevier, die Sperrung der Straßen. Nicolas Gasser hat uns erzählt, dass man im ersten Jahr überlegt hatte, ob sich nicht auch die Polizisten verkleiden sollten. Das wäre ja irre gewesen!
Neben dem Umzug sind die beiden anderen wichtigen Ereignisse der Ball und das Feuerwerk.
Der Ball findet im Freien auf einem Platz statt, der
Les
Palmiers roses
heißt.
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