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Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel Benchetrit
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zugestoßen war, würden sie mir sicher nicht böse sein.
     
    Kaum hatte ich den Park verlassen, sprintete ich los. Ich musste diese Straßenzüge, die mich von der Bibliothek trennten, schnell hinter mir lassen. Sie sind einfach zu hässlich, es ist buchstäblich zum Davonlaufen. Das Problem, wenn man mit leerem Magen rennt, ist, dass einem übel wird. Deshalb packt mir meine Mutter immer etwas zu essen ein, wenn ich Sport habe, Kekse oder Obst zum Beispiel. Am schlimmsten ist es nach dem Schwimmbad.Mann, hab ich einen Kohldampf nach dem Schwimmen, ich könnte alles und jeden danach auffressen. Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon mal aufgefallen ist, es schmeckt alles anders, wenn man aus dem Wasser kommt. Alles schmeckt besser. Wenn ich ein Restaurant hätte, würde ich einen Pool daneben aufstellen und die Leute erst zum Schwimmen schicken, bevor ich sie an die Tische lasse.
    Als ich die Marcel-Proust-Bibliothek vor mir sah, hörte ich auf zu rennen. Was sollte ich tun? Ich wusste es nicht und ließ mich auf die Stufen vor dem Eingang sinken. Diese Umgebung konnte einen nur fertigmachen. Ein neues Viertel, so neu allerdings nun auch nicht mehr. Wissen Sie, die Gebäude und die Bäume wurden zur selben Zeit hier gepflanzt, aber die Gebäude sind rascher gealtert, als die Bäume gewachsen.
    Vor der Bibliothek gibt es einen riesigen Parkplatz, doch es stand kein Auto dort. Das ist anders als vor dem
Carrefour
, dort findet man auf Anhieb nie einen Platz und muss sich erst mit anderen prügeln, um sein Auto abstellen zu können. Bestimmt essen die Leute mehr, als dass sie lesen.
    Ich stand auf und schlenderte einmal um die Bibliothek herum. Warum der Typ aus dem Einkaufszentrum mich hierher geschickt hatte, um meinen Bruder zu suchen, kapierte ich nicht. Vielleicht wollte er mich nur auf den Arm nehmen. Oder er war tatsächlich so wirr, wie er geredet hatte.
    Ich lief wieder zurück zum Eingang und spähte durchdie Glastür. Der Innenraum wirkte genauso verlassen wie der Parkplatz. Das Einzige, was sich bewegte, war ein Mann hinter einem Tresen, der Bücher sortierte – und über ihm der Sekundenzeiger einer großen Uhr mit weißem Zifferblatt.

Elftes Kapitel

12 Uhr 15
     
     
    Als ich die Bibliothek betrat, sah der Mann hinter dem Tresen nicht einmal auf. Das ist dort so. Bibliotheken sind wie Kirchen, man hat still zu sein.
    Ich steuerte direkt auf den großen Lesesaal zu, wo die meisten Bücher stehen. Vor dem Mann am Eingang wollte ich so tun, als ginge ich hier täglich ein und aus. Er ist ein städtischer Angestellter, und auch wenn die einen nicht festnehmen können, haben sie auf mich eine Wirkung wie Polizisten. Ich legte mir also zurecht, dass ich, sollte er nachhaken, weshalb ein Junge in meinem Alter um diese Zeit nicht in der Schule ist, ihm antworten würde, dass ich in der Mittagspause lieber hierher käme als in der Kantine zu essen. Um mir Bücher anzugucken, so unersättlich wäre ich nämlich, was das Lesen angeht.
    Von dem großen Lesesaal führen viele Türen in weitere kleine Räume, wo Tische und Stühle stehen, damit die Leute sich hinsetzen und in ihre Lektüre vertiefen können. In jedem Raum war eine andere Rubrik von Büchern untergebracht. Historische Atlanten. Normale Atlanten. Politik. Medizin. Philosophie. Religion. Naturwissenschaften. Comics.
    Ich glaube, es kommen vor allem Gymnasiasten her. In der näheren Umgebung gibt es mehrere Gymnasien. Das Blaise-Pascal. Das Victor-Hugo. Das Jacques-Prévert. Wenn ich eines Tages aufs Gymnasium gehe, dann aufs Prévert.
    Im Hauptsaal sind die französische und die ausländische Literatur untergebracht. Mindestens eine Million Bücher. Wahnsinn, was Menschen so geschrieben haben. Ich finde das gut, einerseits, aber es deprimiert mich auch. Ich habe mal ausgerechnet, wie lange es dauern würde, all diese Bücher zu lesen. Ich habe nicht zu Ende gerechnet, ich glaube, ein ganzes Leben reicht da nicht aus. Ich würde gern mal den Menschen kennenlernen, der die meisten Bücher auf der Welt gelesen hat. Der sieht bestimmt komisch aus, seine Augen stehen wahrscheinlich hervor oder sind explodiert oder so. Vielleicht ist es Monsieur Roland. Ich habe mir vorgenommen, ihn danach zu fragen, wenn ich ihn sehe.
    Zum letzten Mal war ich mit der Schule in der Bibliothek, Madame Boulin, die Direktorin, war auch dabei.
    Sie sagte die ganze Zeit:
    »Ihr werdet nie so viele Bücher besitzen, wie es hier gibt …«
    Es schien ihr Spaß zu machen, das immer

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