Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel Benchetrit
Vom Netzwerk:
hat, er hätte mal ein Probetraining dort mitgemacht, aber das Niveau wäre zu hoch für ihn. Das hat mich total schockiert. Dass es immer jemand Besseren gibt. Und dass diejenigen, die ich für besser halte, noch Bessere kennen. Aber darüber darf man nicht zu viel nachdenken und sollte schön brav auf seiner Wiese bleiben. Vielleicht bin ich ja eines Tages der Beste für irgendjemanden.
    Mein Kumpel Brice hat mir erzählt, dass er gern Architekt werden möchte. Das sind die Leute, die Einfamilien-oder größere Mietshäuser bauen, Museen, Schulen, alles, was man auf der Erde so sieht. Er soll bloß aufpassen, habe ich ihm gesagt, dass er besser wird als diejenigen, die unsere Türme erdacht und errichtet haben. Er meinte, das wäre ja wohl nicht so schwer, er hätte so viel Entsetzliches gesehen, dass er einfach nur genau das Gegenteil davon bauen müsste. Das wird er sicher schaffen, denn er hängt sich wirklich rein. Brice ist immer am Zeichnen und Pläne-Entwerfen. Neulich hat er mir sein Traumhaus gezeigt. Was für ein Haus! So etwas hatte ich in echt noch nie gesehen. Man hätte es für ein Foto aus der Zukunft halten können. Ein Haus ohne Mauern. Alles aus Glas. Und das Geniale daran war, dass man genau erkennen konnte, dass es sich um Fenster handelte. Was ja nicht so einfach hinzukriegen ist, schließlich sind sie durchsichtig, aber Brice war es gelungen, die Spiegelung zu zeichnen. Wahnsinn. Ich bewundere Leute mit so einem Talent. Ich schaffe es ja nicht mal, einen Kreis zu zeichnen, der nicht wie ein Viereck aussieht. Hat was mit Konzentration zu tun, nehme ich an. Meine Mutter hat mal einem professionellen Zeichner, dem sie jeden Morgen in der Métro begegnet, ein Familienfoto gegeben. Auf dem Foto steht sie in der Mitte und lächelt, was das Zeug hält, rechts von ihr mein Bruder, total bekifft, und links ich, lächelnd, wie ich damals eben noch lächelte. Eines Tages brachte meine Mutter die Zeichnung mit nach Hause, wir kriegten uns gar nicht mehr ein – wir sahen uns darauf ähnlicher als auf dem Foto.
    Unser Familienbild hängt in einem Rahmen im Flur, gleich gegenüber der Wohnungstür, und wenn Sie es sehen könnten, würden Sie sofort die Adresse von dem Zeichner haben wollen.
    Und so ist das auch mit dem Haus von Brice, es ist wunderschön, und ich wette, genau so eins würden Sie sich wünschen.
     
    Ich lief schon mindestens fünf Minuten an den Bahngleisen entlang. Auch wenn diese Schienen schon lange keinen Zug mehr gesehen haben, finde ich es immer ein bisschen gruselig, an einem Gleis entlangzugehen. Wie ein Idiot dreht man sich alle zehn Sekunden um. Seltsam, diese verlassenen Orte. In unserer Gegend gibt es sie haufenweise. Und es sind mehr Dinge außer Betrieb, als dass welche funktionieren. Das, was funktioniert, ist extrem anfällig und droht jeden Augenblick den Geist aufzugeben. Meine Schule zum Beispiel – heute ist sie voller Jungs und Mädchen, die zu Hunderten jeden Morgen dorthin gehen. In den Klassenzimmern, auf dem Hof, in der Kantine, in den Fluren – überall ist Leben. Aber eines Tages wird auch meine Schule eine Ruine sein. Und dann wird es ebenso gruselig sein, dort spazieren zu gehen. Es wird mucksmäuschenstill sein, bis auf das Geräusch des Windes – der Wind ist immer der letzte Bewohner. Ein paar Zeichnungen an der Wand oder Skizzen von Physikexperimenten werden an die Schule erinnern, die hier einmal war. An solche Dinge muss ich oft denken, und dasdeprimiert mich. Ich bin auf dem Schulhof, um zu spielen, und auf einmal stelle ich mir die Ruine vor, die hier eines Tages stehen wird. Wenn ich an den Gleisen entlanggehe, höre ich den Lärm vorbeirauschender Züge und stelle mir die Zeit vor, in der auf diesen Schienen tatsächlich noch welche gefahren sind. Ich habe also ganz offensichtlich eine Macke, ich bin ein Psycho, nie lebe ich im richtigen Augenblick.
    Meine Lieblingszeit ist die Zukunft. In der Grundschule war es die erste Zeitform, die ich behalten habe. Die Gegenwart fand ich langweilig, die Vergangenheit traurig.
    Beim Überqueren der Gleise schaute ich brav nach links und nach rechts, für den Fall, dass doch ein Zug käme, dann sprang ich über ein Geländer, das kleiner war als ich, und fand mich hinter der Sporthalle wieder.
    In dieser Halle haben wir immer Sportunterricht. Wir haben nur zwei Stunden pro Woche, da braucht man sich also nicht wirklich zu wundern, dass nicht viel dabei herausspringt, von wegen Medaillen bei den Olympischen

Weitere Kostenlose Bücher