Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Kleinen begeistert in ihren Seifenkisten herumfahren. Ich finde kleine Kinder süß, ich könnte ihnen stundenlang zusehen, wie sie sich über etwas freuen. Und ein weinendes Kind bricht mir fast das Herz, ich würde weiß Gott was darum geben, dass es aufhört.
Wir Großen dürfen nicht mit den kleinen Autos fahren, weil wir zu alt sind. Aber wir hätten eh keine Lust dazu. Außerdem ist der Typ von dem Karussell sowieso ein Vollidiot. Die Stadtverwaltung hat ihm aufgetragen, die Seifenkistchen zu beaufsichtigen. Deshalb macht er sich total wichtig, Sie kennen sicher die Art von Leuten, die bösartig werden, wenn man die Regeln nicht beachtet.
Er heißt Flik-Flak, na ja, das ist nicht sein wirklicher Name, aber für uns heißt er so. Und zwar wegen der Uhr, die er am Handgelenk trägt, und auch wegen der Art, wie er die Uhrzeit ansagt.
Wir ziehen ihn immer auf und fragen ihn:
»Salut, Flik-Flak … Sag mal, wie viel Uhr ist es eigentlich?«
»Es ist Viertel vor … nein … halb vor elf Uhr …«
»Danke, Flik-Flak.«
Was für ein Irrer!
Ich ging an dem Karussell vorbei und fand es zum ersten Mal geschlossen vor. Es öffnet nämlich erst am späten Nachmittag; außer mittwochs und am Wochenende, da ist es ganztags in Betrieb. Genau umgekehrt wie die Schule. Ich setzte mich auf eine Bank und betrachtete die dunkelgrüne Plane, die jetzt heruntergelassen war. Es gibt nichts Schlimmeres als ein abgeriegeltes Karussell! Noch so eine Sache, die ich als Präsident sofort in Angriff nehmen würde: Ich würde anordnen, dass Karussells immer offen sind. Auch nachts. Ich bin mir sicher, dass die Leute sich darüber freuen würden.
Lange bin ich nicht auf der Bank sitzen geblieben. Ich hatte Angst, entdeckt zu werden, und außerdem musste ich ja Henry finden, obwohl es mir ziemlich beknackt vorkam, ihn drüben bei der Bibliothek zu suchen.
Der Parc Colette ist riesengroß, und als ich meinen Magen knurren hörte, befürchtete ich zu verhungern, bevor ich auf der anderen Seite angelangt wäre. Es gab nur alte Leute, die in den Alleen spazieren gingen. Normalerweise, also nach der Schule, meine ich, sieht man nicht so häufig welche, wahrscheinlich überlassen sie den Parkdann uns Kids. An diesem Morgen begegneten mir allerdings gut hundert von ihnen. Dabei musste ich an die Rolands denken und daran, dass sie vielleicht aus lauter Sorge inzwischen bei der Polizei angerufen hatten. Die Beamten werden ihnen dann erklärt haben, weshalb sie meine Mutter verhaften mussten. Aber die Rolands gehören nicht zu der Sorte Mensch, die gleich die Polizei verständigt. Monsieur Roland ist eher jemand, der nie telefoniert. Er ruft weder Polizisten noch Ärzte an. Er ist ein ruhiger Typ, der den ganzen Tag lang Bücher liest. Sobald er eines ausgelesen hat, schlägt er das nächste auf. Bei ihm stehen die Bücher übrigens nicht in Regalen wie in einer Bibliothek, sondern sie liegen auf dem Boden, zu turmhohen Stapeln aufgeschichtet.
Letztes Mal, als ich bei ihnen war, fragte ich ihn, ob ich mir ein Buch anschauen dürfte – ich langweilte mich nämlich ein wenig. Er sagte, ich könnte mir so viele Bücher nehmen, wie ich wollte. Ich sah mich um, und tatsächlich hat mich eines sofort angesprungen.
Frankenstein.
Dann aber dachte ich, dass ich wahrscheinlich als Idiot dastehen würde, wenn ich mich dafür entschied, also suchte ich mir ein sehr dickes mit ledernem Einband, das sehr alt aussah: ein Handbuch über die Elektrizität in Polen, vom Anfang des vorigen Jahrhunderts. Superspannend. Ich hab so getan, als würde es mich völlig faszinieren. Nach einer Weile fragte mich Monsieur Roland, ob mir das Buch gefiele. Total gut, sagte ich, er lachte und gab mir ein anderes,
Peter Pan
.
Ich hatte es noch nicht ausgelesen, als meine Mutter gehen wollte. Monsieur Roland bot sofort an, es mir auszuleihen.
Er sagte:
»Ich leihe es dir, einverstanden?«
»Ja, Monsieur Roland.«
»Und weißt du, warum ich es dir nicht schenke?«
»Nein.«
»Weil es mich freut, dich wiederzusehen, wenn du es mir zurückgibst.«
Also, es gibt eben doch alte Menschen, die Klasse haben und es verstehen, mit anderen zu reden. Ich habe Monsieur Roland sein Buch bisher nicht zurückgebracht, weil ich noch keine Gelegenheit dazu hatte. Dafür habe ich es inzwischen drei Mal gelesen – ich liebe
Peter Pan
!
Ich nahm mir vor, die Rolands heute unbedingt zu besuchen. Das Buch hatte ich nun leider nicht dabei, aber nach all dem, was meiner Mutter
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