Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Goldkette mit einem Medaillon verbarg.
In das Medaillon war etwas eingraviert:
+ qu’hier – que demain.
Ich entrollte das Papier, es stand nur ein einziger Satz darauf: »Alice denkt nicht mehr an mich, aber Madame Traoré und ihr Sohn Charly haben mir Wein geschenkt.«
Ich schaute den Flur hinunter, die Weinflasche vor der Tür des
Vampirs
war verschwunden.
Ich trug das Briefchen und die Kette zu meiner Mutter, die gerade am Frisiertisch saß und sich für die Arbeit zurechtmachte.
Sie faltete den Zettel auseinander und bemühte sich zu entziffern, was darauf geschrieben stand. Ich wurde ungeduldig, selbst für jemanden, der nicht so gut lesen kann, dauerte es ganz schön lang.
»Und, Maman?«
»Ja …«
»Was bedeutet das?«
»Na, das, was da steht … Dieser Mann hat wohl eine Frau geliebt, die ihn nicht mehr liebt, und das macht ihn traurig … Aber er hat sich gefreut, dass wir ihm Wein vorbeigebracht haben.«
»Und auf der Kette?«
»Ich liebe dich mehr als gestern und weniger als morgen … Ich liebe dich jeden Tag ein wenig mehr.«
»Aber warum hat er uns das geschenkt? Das ist doch immerhin ein Schmuckstück!«
»Bestimmt hat ihm das diese Alice geschenkt … Oder sie hat ihm das Geschenk, das er ihr einmal gemacht hat, wieder zurückgegeben. Und jetzt will er sich davon trennen … Damit er nicht mehr daran denken muss … Damit es ihm besser geht …«
Ich war vollkommen fassungslos.
Meine Mutter verstaute die Kette in einer Schublade ihrer Frisierkommode und setzte ihre Schminkarie unbeirrt fort.
Inzwischen ist der
Vampir
umgezogen. Aber ich denke trotzdem jedes Mal an ihn, wenn ich unseren Gang entlanglaufe.
Mehr als gestern und weniger als morgen.
Ich liebe solche kleinen rätselhaften Sätze. Und möchte selbst mal auf einen kommen. Den ließe ich dann in ein Medaillon gravieren, das ich Mélanie schenken würde. Ichversuchte mir einen auszudenken, doch das war gar nicht so einfach, immer wieder landete ich bei
mehr als gestern und weniger als morgen
.
Ich hatte das Viertel mit den Einfamilienhäusern ziemlich schnell erreicht.
Wie immer blieb ich nicht vor Mélanies Haus stehen. Niemals hätte ich gewagt, bei ihr zu klingeln, ich hoffte darauf, dass sie vielleicht irgendwann zufällig den Einfall hätte, rauskommen.
Zwei Häuser weiter setzte ich mich auf die Bordsteinkante. Allein mich dort hinzusetzen machte mir Freude. So als ob ich mit mir selbst im Reinen wäre. In dem Garten gegenüber sägte ein alter Mann an einem Baum herum. Also, er sägte nicht den Baum ab, sondern nur die Äste, die zu lang waren. Bestimmt gibt es einen Fachausdruck dafür, es gibt schließlich für alles ein spezielles Wort. Ich würde gern jedes einzelne kennen, aber da hab ich noch viel zu tun! Es wäre super, mal einem Typ zu begegnen, der alle Wörter der Welt kennt. So einer ist wahrscheinlich nicht auf den Mund gefallen. Ich nehme an, Monsieur Roland ist nah dran. Nächstes Mal frage ich ihn, wie man sagt, wenn man einem Baum die Äste abschneidet.
Seit Paris ist mein absolutes Lieblingswort
Autoportrait
, ich möchte es jedes Mal, wenn ich irgendetwas sage, verwenden, was manchmal zu ganz schönen Gesprächsverrenkungen führt.
Während ich so dasaß, versuchte ich mir ein Wort für Ästeabschneiden auszudenken, aber ich kam übers Schneiden nicht hinaus. Es ist schwierig, sich Wörter auszudenken, schwieriger, als ganze Geschichten zu erzählen oder Aufsätze zu schreiben.
Endlich fand ich eins, das mir gefiel.
Abzweigen.
Gut, das gibt es schon, und es bedeutet etwas anderes. Aber ich finde es schön, etwas von einem Baum
abzuzweigen
.
Plötzlich kam Mélanies Mutter aus dem Haus des alten Mannes, der an seinem Baum herumschnippelte. Ich erschrak, als ich sie sah. Sie ging durch den Garten und küsste den Alten zum Abschied auf die Wange. Ich schaute mir das an wie einen Film im Kino. Ich wusste, gleich würde Madame Renoir auf die Straße treten, aber ich war unfähig, mich zu rühren. Außerdem war ich ein Junge wie jeder andere, und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie mich erkannte.
Als sie an mir vorüber- und zu ihrem Haus hinüberging, drehte ich den Kopf zur Seite. Ich wollte nicht so wirken wie jemand, der nichts anderes zu tun hat, als auf der Bordsteinkante zu sitzen, nur zwei Meter entfernt von dem Mädchen, das er liebt.
Das wäre mir pervers vorgekommen.
»Gehst du nicht auf dieselbe Schule wie Mélanie?«
Ich sah auf.
»Ah, guten Tag, Madame Renoir
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