Ringkampf: Roman (German Edition)
Reginald den Probenplan für den kommenden Tag. Auf dem Sitz zu seiner Rechten lauerte Gwendolyn, einen Bleistift fest umklammert, bereit, die Kritikbrocken zu notieren, die er ihr während dieser ersten Bühnen-Orchester-Probe hinwerfen würde.
Die Dramaturgin saß einige Reihen hinter den anderen. Sie war tief in das blaue Polster gesunken, ihre angewinkelten Knie drückten gegen das helle Holz des Vordersitzes. Die heimlichen Blicke, die zwischen Regisseur und Hospitantin hin- und herflatterten, waren ihr nicht entgangen.
Aus dem Orchestergraben wehte babylonisches Stimmengewirr. Motive, die in der Partitur einander nie begegneten, kreuzten sich zu unzeitgemäßer Zufallsmusik. Der Feuerzauber verzischte im Wellenspiel. Violoncelli leisteten Vernichtungsarbeit an Wotans
Verträgen. Rheingoldfanfaren übertrumpften den Herrscherruf. Wagnertuben schritten im gravitätischen Choralklang nach Walhall, während ein einzelnes Horn verbissen durchs Schmiedemotiv stolperte. Paukenwirbel beendeten den mißlungenen Liebesbann einer Klarinette.
Der Konzertmeister klopfte auf sein Notenpult. Der erste Oboist gab den Kammerton. Nach und nach pendelten sich die Bläsergruppen ein. Der Konzertmeister übernahm. Mit stoischem Bogenstrich fing er an, die Streicher auf die gemeinsamen Hertz einzuschwören. Ein immer reibungsloseres Unisono wuchs aus dem zerklüfteten Graben.
Benito Bellini erteilte seinem Assistenten in der ersten Reihe letzte Anweisungen, nahm aus dessen Händen den Taktstock, den er keinem Orchesterwart anvertraute und schwang sich zu seinem eingestimmten Instrumentarium hinab. Die Lichter im Saal erloschen vollständig. Nur zwei kleine Lämpchen am Regiepult leuchteten aus der Dunkelheit. Gewaltig erhob sich der Vorhang über dem Graben.
In die geschwärzte Stille hinein senkte sich das verhaltene Kontra-Es der Bässe. Behutsam ließ Bellini die schon tausendmal erhitzte Ursuppe aufköcheln. Aus dem Handgelenk heraus schlug er die stehenden Anfangstakte, drosselte seine Gebärden, bis das Vorspiel erste, zähe Blasen warf. Der Klang begann zu brodeln. Die Ouvertüre gelangte an den Punkt, an dem es sie drängte, Szenisches auszuscheiden.
Alexander Raven donnerte mit der Faust auf das Holzpult. »Vorhang! Vorhang«, brüllte er. Der rote Samt stellte sich taub. Der Regisseur griff zu seinem Mikrophon.
Verstärkt brüllte er noch einmal: »Vorhang! Verdammt, wo bleibt der Vorhang!«
Der Dirigent wiederholte deutlicher das Zeichen, das den Vorhang lüften sollte. Das schwere Tuch wich keinen Zoll. Majestätisch hielt es seine Falten zusammen.
Nun brüllte auch er zur roten Samtwand hinauf. Im Orchestergraben faßte Verwirrung um sich. Einige Musiker verstummten. Andere folgten blind dem Taktstock.
Im Vorhang zeichneten sich Bewegungen ab. Unsichtbare Hände zerwühlten die Falten, bis sich der Stoff einen Spaltbreit öffnete. Der Bühnenmeister trat an die Rampe und begann wie im Stummfilm zu reden.
»Wie? Was ist«, schrie Alexander Raven gegen den immer noch siedenden Orchesterklang an. »Ich verstehe kein Wort.«
Mit einer einzigen Geste brachte Bellini die restlichen Instrumente zum Schweigen.
Das hohe Stimmchen des Bühnenmeisters vermochte dessen Sätze dennoch kaum in die achte Reihe des Zuschauerraums zu tragen. »Mer müsse da wieder irschendein Problem im Compjuder habbe«, bemühte er sich zu erklären. »Weil an der Übertragungs-Elektrik kanns nach menschlischem Ermesse eischentlisch net liesche. Irschendwas in dem Reschner, der den Vorhang steuern tut, is net in Ordnung. Dabei hat unser Informatiker in der letzt Woch extra die Tschip all noch emal abgetscheckt. Isch was wirklisch net, was da nu widder los seikann.«
Reginald wand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seinem Platz. Gwendolyn knabberte an ihrem Bleistift. Alexander Raven lauschte angestrengt. Die Adern
an seinen Schläfen zeichneten sich wie unverputzte Kabel ab. »Ja und was heißt das für uns? Wie lange dauert es, bis Sie diesen Vorhang aufbekommen?«
Der Bühnenmeister winkte lachend ab. »Ei, heut kriesche mer den nimmer uff.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, brüllte der Regisseur außer sich. »Das ist ja völlig unmöglich! Sie haben mir doch gestern noch versichert, Sie hätten die Probleme jetzt endlich alle behoben. Wir sind inzwischen mehr als eine Woche im Verzug. Nur weil es im ganzen Haus anscheinend niemanden gibt, der fähig wäre, diese verdammte neue Bühnentechnik in Betrieb zu nehmen. Das ist doch
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