Ringkampf: Roman (German Edition)
junge Frau wie Sie seitenweise Wagnerim Kopf?«
»Ich kann den ganzen Ring auswendig«, sagte Gwendolyn mit bescheidenem Stolz. »Alle Rollen. Wollen Sie noch was hören?«
Es lachte abermals. »Ich bin geneigt, es Ihnen auch so zu glauben — nach dem, was Sie mir gerade geboten haben. «
Gwendolyn tastete über ihre Stirn. Ihr Pony war steif wie ein vertrockneter Öllappen. »Weiß auch nicht, warum ich das kann«, sagte sie leicht verwirrt. »Kam einfach so. Irgendwann. Ich hab nämlich immer alle Rollen mitgesungen — wenn ich zu Hause den Ring gehört hab.« Sie versuchte, die verfilzten Strähnen zu zerteilen. »Sie können mir auch irgendeine Stelle vorsingen, und ich sag Ihnen dann, welche es ist, ja?«
Die rauchige Stimme war in Gwendolyns Nähe angekommen. »Ich glaube, uns bleibt nachher noch genügend Zeit zum Wagner-Raten. Wir sollten jetzt erst einmal schauen, daß wir uns irgendwie erwischen.«
Gwendolyn spürte, wie sich das Schwarz um sie herum zusammenschob. Sie kauerte sich enger an die Wand.
»Finden Sie nicht auch, daß wir uns nach allem, was passiert ist, das Du jetzt redlich verdient haben«, raunte es über ihrem Kopf. Sie hörte, wie eine Hand die Wand entlangschabte. »Ich bin Alexander.«
»Ich bin Gwendolyn«, flüsterte sie.
Die Stimme schwenkte auf sie zu. »Ich glaube, ich kann deine Körperwärme schon spüren. Streck mir deine Hand hin. Sitzt du oder stehst du ?«
»Ich sitze«, wisperte Gwendolyn. Die Luft geriet in Bewegung. Ein warmer Hauch streichelte ihren nackten Oberarm. Sie stieß einen spitzen Schrei aus. Die Hand zuckte zurück.
»Was ist passiert«, raunte es neben ihrem Ohr.
»Du hast mich gekratzt.«
»Entschuldige. Das muß mein verdammter Ring gewesen sein. Ich habe mich neulich auch schon geschnitten. Irgendeine Kante ist messerscharf. Warte, ich ziehe ihn aus, bevor ich dich noch mal kratze.«
Gwendolyn zuckte kaum mehr zusammen, als die fremden Finger ihr Gesicht das zweite Mal berührten. Mit ergebenem Seufzen gestattete sie ihnen, über ihren Hals tieferzu gleiten.
16
Wie alle Menschen, die sich vom Diesseits so beengt fühlen wie von einer Zwanzig-Quadratmeter-Sozialwohnung, so beschäftigte sich auch Benito Bellini die meiste Zeit mit der Zeit nach seiner Zeit. Erwußte, daß er einen besonders harten Kampf mit der Ewigkeit auszufechten hatte. Vincenzo, der Belcantokomponist,
mußte ausgelöscht werden. Im Weltgedächtnis war nur für einen Bellini Platz.
Neunundvierzig Plattenaufnahmen hatte der Maestro bereits eingespielt. Und vor Jahren schon hatte er damit begonnen, die kostbaren Klangdokumente aus den vergänglichen Rillen des Vinyl in die ewigen Bits der Compact Disc hinüberretten zu lassen. Photographien seiner selbst versah Bellini gewissenhaft mit Ort und Datum. Abgelegte Fräcke bewahrte er in zedernholzverschalten Schränken auf, die genauen Zeiten, die sie an seinem Körper verbracht hatten, notierte er auf kleinen Papierstreifen an den Bügeln. Dirigierpartituren und Taktstöcke warteten in Glasvitrinen auf den Tag des jüngsten Gerichts.
Bellini fühlte jedoch, daß dies allein nicht ausreichte, um sich ewiges Feuer einzuhauchen. Es mußte noch etwas Verborgenes geben, eine verschlossene Schublade, die sich dem Weltauge erst nach seinem Tod öffnen würde.
In jüngeren Jahren hatte er sein postum zu lüftendes Privatleben im Tagebuch geführt. Seit einiger Zeit gab er der brieflichen Form den Vorzug. Am liebsten teilte er seine Innenansichten einem Pariser Intendantenfreund mit. So auch in dieser lauen Augustnacht.
»Liebster, teuerster Freund! Carissimo! «
Das Fenster war weit geöffnet, ein weißer Lilienstrauß stand auf dem Schreibtisch. Bellini pustete einige Blütenstaubkörnchen vom Briefpapier. Er nippte ein letztes Mal an seinem Champagner.
»Seit Tagen brenne ich darauf, Dir endlich schreiben zu können, um Dich an meinem unendlichen Glück teilhaben zu lassen. Wie oft in der letzten Zeit waren es
schwarze, traurige Gedanken, von denen ich Dir berichten mußte, und die ich bei Dir in so lieben, so gütigen Händen aufbewahrt wußte. Doch seitdem ich am Ring arbeite, ist mein Unglück vorbei. Dieses Werk! Es ist alles so groß, so wahr, so schön! Ich spüre die Welt um mich herum versinken.
Heute habe ich Rheingold geprobt, die vierte Szene. Ich bin ganz eingetaucht in diese Musik. Es ist alles richtig, was Wagner dort komponiert hat, jede Note, aber keine Stelle vermag mich so zu berühren wie Alberichs Fluch.
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