Ringwelt 11: Die Flotte der Puppenspieler
erschien ihm so archaisch, als wolle jemand ›das Kopfkissen‹ oder ›den Tisch‹ erfinden. Derartige Dinge waren auf seiner Heimatwelt schon seit vielen Jahrtausenden standardisiert. Doch genauso wie die Gw’oth hatte auch sein eigenes Volk diese Technologie einst ersinnen müssen. Wahrscheinlich musste man dafür Variationen an Hitze und Druck in sämtlichen Abschnitten der Düse betrachten. Ach so. »Drei Raumdimensionen und die Zeit. Du siehst also Parallelen zwischen vierfacher Verknüpfung …« So sehr sich Nessus auch bemühte, es gelang ihm nicht, sich seine Abscheu nicht anmerken zulassen. »… und vierdimensionaler Matrizenrechnung.«
Auf ihren Kissen beugte Kirsten sich vor; ihre Augen glänzten. »Ganz genau. Ich habe ähnliche Expansions-Korrelationen in anderen Archiven. Es sieht ganz danach aus, als würde die Anzahl der Inter-Gw’o-Verbindungen einfachen mathematischen Modellen folgen: Reihen miteinander verbundener Gw’oth ähneln einfachen, eindimensionalen Gasdiffusionsmodellen. Dreifache Verknüpfungen verhalten sich wie 3-D-Modelle molekularer Bindungen. Und ich habe noch weitere Beispiele gefunden.«
Allmählich glaubte Nessus der Kolonistin. »Wie ist etwas Derartiges möglich?«
»Wir hatten bereits aufgrund der medizinischen Aufzeichnungen vermutet, dass diese Spezies sich aus einem Kolonie-Organismus entwickelt hat. Die einzelnen Röhren ähneln Schlauchwürmern, wobei zumindest Rudimente aller für das individuelle Überleben erforderlichen ursprünglichen Organe vorhanden sind. Omar glaubt, die Urform hätte seinerzeit ihre Nervensysteme miteinander verbunden und langfristig dann ein großes, zentrales Gehirn entwickelt, das die einzelnen Individuen schließlich gemeinsam genutzt haben. Es sieht so aus, als könnten die Nervensysteme auch am anderen Ende miteinander verbunden werden – an dem frei beweglichen Ende der Röhren. Wenn das stimmt, würde eine derartige Verbindung zu einem Kollektivverstand mehrerer Individuen führen.«
Es wäre Nessus’ eigenen Zielen nicht dienlich gewesen, wenn er es jetzt zugegeben hätte, doch er war wirklich fasziniert. »Biologische Computer. Das würde erklären, warum ihr gewaltige Archive gefunden habt, aber keine Rechenzentren. Das ist eine durchaus interessante Hypothese, aber es könnte natürlich auch reiner Zufall sein.« Könnte es wirklich wahr sein? »Aber selbst wenn du recht hättest: Warum sollte mich das interessieren?«
»Verstehen Sie denn nicht? Wir alle haben uns darüber gewundert, dass es dort zu einem so großen Kreativitätsschub gekommen ist – wir haben uns deswegen sogar Sorgen gemacht! Die Gw’oth müssen sich schon seit Ewigkeiten darauf vorbereiten, die Eisdecke zu durchstoßen, und sie haben gewartet, bis sie sich einen sehr detaillierten Plan zurechtgelegt hatten. Denken Sie doch an diese ganzen Ruinen auf dem Meeresgrund, die wir dank des Tiefenradars gefunden und in einigen Videoübertragungen gesehen haben – das ist eine uralte Zivilisation. Die Leistungsfähigkeit und Kreativität dieser Spezies wirken nur, als würden sie erst jetzt, plötzlich und spontan, entstehen.«
Nessus war fester denn je davon überzeugt, dass dieses Kundschafter-Ausbildungsprogramm für Kolonisten wirklich wertvoll war. Wäre ein Bürger-Kundschafter jemals zu diesen bizarren – aber möglicherweise wirklich zutreffenden – Schlussfolgerungen über die Gw’oth gekommen? Nessus bezweifelte es – und dabei dachte er noch nicht einmal darüber nach, welche Schwierigkeiten sich bei der Zusammenstellung einer Mannschaft ergäben, die ausschließlich aus Bürgern bestünde.
»Kirsten, gehen wir einmal davon aus, du hättest recht. Im Laufe ihrer Geschichte waren die Gw’oth immer nur auf Muskel- und Wasserkraft angewiesen – und dazu möglicherweise noch auf vulkanische Wärme. Ihr kollektives Gedächtnis beschränkte sich auf das, was man unter Wasser aufzeichnen kann – auf eine Art wasserfestes Analogon zu Papier. Und sie waren die ganze Zeit über unter dem Eis gefangen. Und jetzt sind alle diese Beschränkungen aufgehoben. Sie verfügen über Kernenergie. Sie hatten die Möglichkeit, oberhalb der Eisdecke gewaltige Datenarchive anzulegen. Und sie stehen kurz davor, die Raumfahrt zu entwickeln, und all diese anderen Monde warten nur auf sie. Bei denen hat sich vieles verändert, eigentlich sogar fast alles. Das Einzige, das sich noch nicht verändert hat, ist vielleicht dieser unbeugsame Wille, der sie davon
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