Ringwelt
Zwölf-Ton-Skala für ihre Kirchenmusik. Jedenfalls hörte sich der Choral feierlich an.
Der Marktplatz hatte riesige Ausmaße. Die tausend Gemeindemitglieder verloren sich fast auf dieser Fläche. In der Mitte des Platzes stand ein Mann auf einem Sockel und dirigierte den Gesang mit beiden Armen. Hier gab es keine Lautsprecher oder elektronischen Verstärker mehr. Louis Wu wußte eine Originalaufführung durchaus zu schätzen. Auf der Erde wurde einem so etwas sehr selten geboten - auf keinen Fall ohne elektronische Verbesserung.
Die Qualität des Chores war erstaunlich gut. Louis wurde von dem Gesang angesteckt und versuchte, mitzusummen.
»So etwas tut ein Gott nicht«, knurrte er dann und peilte die Mitte des Platzes an.
Der Sockel in der Mitte des Platzes mußte früher mal ein Standbild getragen haben. Man sah es an den menschenähnlichen Fußabdrücken auf dem Podest - jeder gut über einen Meter lang -, wo früher die Statue einzementiert worden war. Jetzt war der Sockel von einem dreieckigen Altar besetzt. Ein Mann stand davor und schwang beide Arme in die Luft.
Louis sah, wie der Kopf dieses Mannes rosa aufleuchtete. Das mußte eine zeremonielle Kopfbedeckung sein, dachte Louis, während er auf dem Sockel landete. Im gleichen Augenblick drehte sich der Leiter des Kirchenchores um. Louis hätte in diesem Augenblick fast eine Bruchlandung hingelegt.
Der Mann hatte einen kahlgeschorenen Kopf. Eigenartig, dieser rosige Kahlschädel in einer Schar von bärtigen Gesichtern, in denen man nur die Augen sehen konnte. Der Chorleiter streckte die Hand aus. Der Gesang brach mitten im Takt ab. Dann starrte der Mann (ein Priester?) Louis Wu schweigend an.
Er war genauso groß wie Louis Wu, also ungewöhnlich groß für einen Eingeborenen. Die Haut seines Schädels und Gesichtes war hell, fast durchsichtig, wie bei einem Albino auf dem Kolonialplaneten Paradise. Er mußte sich erst vor ein paar Stunden das Gesicht mit einem stumpfen Rasiermesser rasiert haben; man sah hier und dort einen grauen Bartstoppel.
Er öffnete den Mund, und die Translatorscheibe übersetzte mit einem vorwurfsvollen Unterton: »Endlich seid ihr wiedergekommen!«
»Ich wußte nicht, daß wir erwartet wurden«, antwortete Louis wahrheitsgemäß. Erbesaß nicht genügend Selbstvertrauen, ganz allein den Gott zu spielen. Und die Erfahrung eines langen Lebens warnte ihn vor einer handfesten Lüge, die manchmal verheerende Folgen haben konnte.
»Ihr habt Haare auf dem Kopf«, fuhr der Priester fort. »Mir scheint, daß Euer Blut nicht ganz rein ist, verehrungswürdiger Baumeister!«
Das war also das Haar in der Suppe! Die reinrassigen Baumeister waren kahlköpfige Leute gewesen. Deswegen mußten die Einheimischen, die als Statthalter der göttlichen Baumeister das Erbe verwalteten, sich auch alles Haar vom Kopf herunterkratzen. Oder hatten die Baumeister vielleicht Enthaarungsmittel verwendet, weil ihnen das Kämmen lästig fiel? Auf jeden Fall hatte der Priester eine starke Ähnlichkeit mit dem Drahtporträt in der Banketthalle.
»Mein Blut geht Sie nichts an«, sagte Louis und schob damit dieses Problem elegant zur Seite. »Wir sind auf dem Weg zum Rand der Ringmauer. Können Sie mir sagen, ob wir hier auf dem richtigen Kurs sind?«
Der Priester war von dieser Frage offensichtlich total verwirrt. »Ihr bittet mich um Auskunft - Ihr, ein Baumeister dieser Welt?«
»Ich bin kein Baumeister«, antwortete Louis, die Hand auf dem Schalter der Schalltasche.
Doch der Priester hatte seine Überraschung noch nicht überwunden. »Warum habt Ihr dann ein kahles Gesicht? Ihr beherrscht das Fliegen. Habt Ihr dieses Geheimnis vom Himmel gestohlen? Und was sucht Ihr hier überhaupt? Wollt Ihr mir vielleicht meine Gemeinde wegnehmen?«
Diese letzte Frage schien sehr wichtig zu sein. »Wir sind nur unterwegs zum Rand der Ringmauer«, beschwichtigte Louis den Priester. »Wir wollen wirklich nur eine Auskunft haben.«
»Ihre Antwort ist im Himmel!«
»Nehmen Sie mich jetzt nur nicht auf den Arm«, erwiderte Louis gereizt.
»Aber Sie kommen doch direkt von dort! Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen!«
»Ach, Sie sprechen von dem fliegenden Haus da oben! Ja, wir haben es besichtigt. Aber es hat uns nicht viel gesagt. Eine dumme Frage - waren die Baumeister dieser Welt wirklich kahl auf dem Kopf?«
»Ich habe mich das auch schon oft gefragt«, gestand der Priester. »Manchmal neige ich zu der Ansicht, daß sie sich auch jeden Tag rasieren
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