Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
allerdings zunächst irgendjemand mitbekam, so dass die vielleicht erste Hausbesetzung der BRD am Tag darauf wiederholt werden musste. Eine weitere Fabrikbesetzung in Kreuzberg und die Besetzung der Alten Posthalterei in Ahrensburg bei Hamburg, vor allem aber die Besetzung des Bethanien-Krankenhauses am 8. Dezember 1971 lösten schließlich eine Hausbesetzungswelle aus, die schon bald das ganze Land überrollte.
Innerhalb nur eines Jahres war so aus einer völlig unbekannten Kreuzberger Rock-Gruppe Deutschlands Polit-Rock-Band Nr. 1 geworden, die Brechts Einheitsfrontlied , das Hanns Eisler vertont hatte, sogar auf dem Arbeiter-Song-Festival des DKP-nahen Kabarettisten Dietrich Kittner spielen durfte; dabei hatte sie schon damals ihren Ruf als Anarcho-Kapelle weg und mit Jörg Schlotterer einen »religiösen Berater«, der nicht nur Querflöte spielte, sondern auch über Kontakte zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und zur Roten Armee Fraktion (RAF) verfügte. Keine Frage: Die Revolution stand vor der Tür, und die Scherben lieferten den Soundtrack dazu. Nur über den genauen Termin und den Weg dorthin war sich die Linke noch nicht einig.
Kai Sichtermann und Rio mit Brandschutzbeauftragten bei Proben in Kaunitz
09 Warum geht es mir so dreckig?
Von Anfang an hatten Rio und seine Brüder alles selbst in die Hand genommen, statt ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb Stadttheatern oder Plattenfirmen anzuvertrauen. Diese Haltung verdankten sie zum einen ihren Eltern, entsprach zum anderen aber auch dem damaligen Zeitgeist. In einem Interview, das die Scherben im Februar 1971 der Berliner Boulevardzeitung B.Z. gaben, erläuterten sie, warum sie »nach einigen zugegebenermaßen nicht ganz leichten Diskussionen« beschlossen hatten, nicht »mit den Leuten des Show-Geschäfts« zusammenzuarbeiten: »Unsere Glaubwürdigkeit wäre dahin. Machen wir uns doch nichts vor, auch wenn uns die ›größtmögliche künstlerische Freiheit‹ zugesichert wird, man sagte mit Recht, jetzt sind wir integriert.«
Erste Aufnahmen für eine LP, die sie im Dezember 1970 eingespielt hatten, blieben wegen der schlechten Tonqualität unveröffentlicht. Aus dem Live-Mitschnitt ihres Auftritts für die Schwarze Hilfe und im Frühjahr entstandenen Studioaufnahmen stellten sie jedoch ihre erste LP zusammen, die im September 1971 unter dem Titel Warum geht es mir so dreckig? auf dem bandeigenen David-Volksmund-Label erschien. Das Album wurde hauptsächlich über linke Buchläden vertrieben, die im Zuge der Studentenbewegung in jeder größeren (Universitäts-)Stadt entstanden waren, oder bei ihren Konzerten verkauft.
Neben Klassikern wie Mein Name ist Mensch (der 2004 eindrucksvoll von den Söhnen Mannheims gecovert wurde), Ich will nicht werden, was mein Alter ist und dem Titel-Song Warum geht es mir so dreckig? , einer keineswegs platten Aufforderung, sein Schicksal nicht allein in die Hände zu nehmen, enthielt das erste Scherben-Album sowohl das für Rita & Paul geschriebene Theater-Lied Alles verändert sich als auch den bei den Aufnahmen der Macht kaputt … -Single entstandenen, bislang aber unveröffentlichten Song Solidarität . (Dessen Text sollte noch im Mai 2001 die 11. überarbeitete Auflage der Rote-Hilfe-Broschüre Was tun … wenn’s brennt?! zieren; ein weiterer Text des Debüt-Albums, der von Sklavenhändler , wurde – natürlich ohne Autorenangabe oder dass man die Scherben um eine Abdruckerlaubnis gebeten hätte – 1980 in dem Handbuch Wege zu Wissen und Wohlstand oder: Lieber krankfeiern als gesund schuften veröffentlicht.) Den Song Der Kampf geht weiter hatten Rio und Lanrue, die für alle Texte und Musiken verantwortlich zeichneten, ursprünglich für einen Videofilm geschrieben, den Angela Lutter und Cristina Perincioli anlässlich der Verhaftung des Rechtsanwaltes und RAF-Mitgliedes Horst Mahler drehten. Hanns Eislers Einheitsfrontlied , das auf Brechts Svendborger Gedichten basierte und im Auftrag des Internationalen Musikbüros Moskau entstanden war, um die I. Internationale Arbeiter-Olympiade zu unterstützen, die 1935 in Straßburg stattfinden sollte, schloss sich nahtlos an Macht kaputt, was euch kaputt macht an, wurde jedoch auf dem Cover nicht erwähnt.
Der Platte lag außerdem ein Plakat bei, auf dem eine zerbrochene Macht kaputt … -Single zu sehen war; die Inspiration zu dem Plakatmotiv verdankte man Rios Freund Raymond Fleschner, der die Single stolz seinem Schwager vorgespielt hatte, nicht
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